Rede von Matthias W. Birkwald MdB DIE LINKE.
Im Deutschen Bundestag am 15. Oktober 2015
Zur ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und weiterer Vorschriften (BT-Drs. 18/6284)
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
An Silvester 2014 waren 1 Million Menschen in Deutschland auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, sprich: auf Sozialhilfe, angewiesen. Sie mussten aufs Sozialamt, weil ihre Erwerbsminderungsrente durchschnittlich weniger als 735 Euro betrug oder ihr Alterseinkommen im Schnitt unter 782 Euro lag oder weil sie sich ihre Miete nicht leisten konnten oder weil sie sich ihre Medikamente nicht leisten konnten. Was sie vom Sozialamt dann erhalten, liegt weit unter den gängigen Armutsrisikogrenzen. Die offizielle Armutsgrenze der Europäischen Union liegt für alleinlebende Menschen in Deutschland bei 979 Euro im Monat. Das ist der eigentliche Skandal. Und daran ändert Ihr 54 Seiten langer Gesetzentwurf gar nichts.
(Beifall bei der LINKEN)
Ihr Gesetzentwurf ändert auch Nullkommanichts daran, dass die Zahl derjenigen Älteren, die aufs Sozialamt müssen, in den vergangenen zehn Jahren um 76 Prozent gestiegen ist, und sich bei den Erwerbsgeminderten die Zahl sogar verdoppelt hat. Jahr für Jahr kommen 30 000 bis 40 000 Betroffene neu dazu. Akzeptieren Sie endlich, dass viele Altersrenten und noch mehr Erwerbsminderungsrenten nicht vor Armut schützen! Darum sage ich Ihnen: Schaffen Sie die ungerechten Abschläge für Erwerbsminderungsrentner und ‑rentnerinnen ab!
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Und: Schaffen Sie die Kürzungsfaktoren in der Rentenanpassungsformel ab! Das wäre bitter notwendig.
(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])
Aber davon findet sich selbstverständlich nichts in Ihrem Gesetzentwurf.
Worum geht es Ihnen? Seit dem 1. Januar 2014 ist die Grundsicherung im Alter komplett auf den Bund übergegangen. Daraus ergeben sich Auslegungsfragen, Verfahrensänderungen usw.; das machen Sie alles mehr oder weniger bürokratisch korrekt. Aber dann liest man auf einmal auf Seite 40 des Gesetzentwurfes, dass sich der Bundesrat in seiner Stellungnahme einem echten Problem zuwendet, Herr Kollege Weiß, den ich an dieser Stelle gerne ansprechen möchte, einem Problem, wegen dessen sich immer wieder Betroffene an uns wenden: Die Grundsicherung, die die Rente ja oft nur aufstockt – sagen wir zum Beispiel: um 200 Euro –, wird am Beginn eines Monats ausgezahlt. Die Rente – sagen wir zum Beispiel: in Höhe von 600 Euro – wird aber erst am Ende des Monats ausgezahlt. Folge: Die Rentnerin muss einen Monat lang von 200 Euro leben. Wie soll denn das gehen?
Wir hatten der Bundesregierung im November 2014 zu dieser Lücke zwischen Grundsicherung und Rentenauszahlung eine Frage gestellt. Sie wollten prüfen, was Sie tun können. Der Bundesrat hat zur Lösung des Problems drei leider hochkomplizierte Verfahrensvarianten vorgelegt. Das ist schon befremdlich; aber dass die Bundesregierung auf Seite 51 des Gesetzentwurfs ebenfalls das Problem anerkennt, die vom Bundesrat vorgeschlagene Regelung in epischer Breite auf ihre Schwächen hin abklopft, um dann am Ende nichts vorzulegen, das ist wirklich unverschämt.
(Beifall bei der LINKEN)
Zitat:
Die Bundesregierung lehnt es bereits im Grundsatz ab, das im SGB XII geltende Zuflussprinzip ... zu durchbrechen ...
Welcher Grundsatz denn? Ignoranz? Bürokratische Weltfremdheit? Nein, das ist wirklich ein Schlag ins Gesicht von älteren Menschen, die einen Monat lang von 200 Euro leben sollen.
Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge, wahrlich keine kommunistische Vorfeldorganisation, hatte ganz einfach und elegant gefordert, die Rente im ersten Monat nicht zu berücksichtigen – ganz einfach. Man bekäme also im ersten Monat einmalig zum Beispiel 800 Euro Grundsicherung und erst ab dem nächsten Monat dann immer nur 200 Euro Grundsicherung am Anfang des Monats und 600 Euro Rente am Ende des Monats. Das ist doch ein guter Vorschlag. Setzen Sie ihn um. Die Betroffenen werden es Ihnen danken.
(Beifall bei der LINKEN)
Jetzt nach all der Kritik noch ein bisschen Lob
(Zurufe von der SPD: Oh! – Katja Mast [SPD]: Das sind wir gar nicht gewohnt!)
und ein bisschen Eigenlob.
(Zurufe von der SPD: Ah!)
Bisher wurde die Verletztenrente bei früheren Wehrdienstleistenden der Nationalen Volksarmee auf die Grundsicherung angerechnet und die der Wehrdienstleistenden der Bundeswehr nicht. Das war ungerecht, und das ist ungerecht. Die Linke kritisiert das schon seit der 16. Legislaturperiode.
(Zuruf von der LINKEN: Aha!)
Jetzt wollen Sie endlich einen Freibetrag von durchschnittlich 238 Euro im Jahr einführen. Damit würden Sie immerhin eine der einigungsbedingten Ungerechtigkeiten beseitigen. Das ist gut. Machen Sie weiter so.
(Beifall bei der LINKEN – Katja Mast [SPD]: Danke!)
Noch ein Wort zur Hofabgabeklausel bei Bauern.
Vizepräsidentin Claudia Roth:
Ein kurzes Wort.
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Die Linke bleibt dabei: Die Hofabgabeklausel ist anachronistisch. Sie muss gestrichen werden. Sie wirkt häufig wie eine Zwangsenteignung: Gibt der Landwirt den Hof ab, bekommt er eine Minirente, kann aber nichts dazuverdienen; gibt er ihn nicht ab, hat er komplett umsonst eingezahlt. Dass wenigstens die jüngeren Ehepartnerinnen einen eigenen Rentenanspruch behalten, wenn ihr Gatte den Hof nicht abgibt, wäre ein kleiner Fortschritt. Das ändert an dem Grundproblem aber nur wenig. Darüber werden wir in der Anhörung noch reden.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
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