Seit Jahren wird über eine Rechtsvereinfachung bei Hartz IV diskutiert. Eine Arbeitsgruppe von Vertreter*innen aus Bund, Ländern und Trägern von Hartz IV hatte Vorschläge gesammelt und gesichtet. Einen Teil davon hat die Bundesregierung inzwischen als „9. SGB-II-Änderungsgesetz“ vorlegt. Am Montag haben Sachverständige in einer Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales dem Gesetz ein miserables Zeugnis ausgestellt: Verschlechterungen für Leistungsberechtigte und mehr Aufwand für die Behörden statt Vereinfachungen. Exemplarisch sei aus der Gesamtbewertung von Prof. Stefan Sell zitiert: Das Gesetz „macht viele Dinge komplizierter, belastet Leistungsberechtigte zusätzlich und verschärft die heute schon vorhandene Unwucht zuungunsten der Leistungsberechtigten und führt vor allem nicht nur nicht zu einer erkennbaren Entlastung der Jobcenter-Mitarbeiter, sondern wird deren Belastung in der Summe weiter erhöhen.“ Bezüglich der ursprünglichen Gesetzesintention kommt selbst die Bundesagentur für Arbeit zu dem Ergebnis, dass keine Entlastung für die Jobcenter und ihre Beschäftigten zu erwarten sei.
Existenzminimum darf nicht gekürzt werden
Sanktionen haben in der Grundsicherung nichts zu suchen. Diese Positionen vertritt DIE LINKE mit Nachdruck, denn das Existenz- und Teilhabeminimum darf nicht gekürzt werden. Immerhin hat die Arbeitsgruppe aus Bund und Ländern sich auf ein paar Änderungen der Sanktionsregeln verständigt, die spürbare Verbesserungen für die Leistungsberechtigten wären. Danach sollten die verschärften Sanktionsregeln für junge Leistungsberechtigte unter 25 Jahren abgeschafft werden. Zudem sollte zukünftig verhindert werden, dass durch Sanktionen Wohnungslosigkeit verursacht wird. Die Kosten der Unterkunft und Heizung sollten von Sanktionen ausgenommen werden. Die heutige Anhörung hat ein weitgehendes Unverständnis an den Tag gelegt, dass diese Vorschläge nicht umgesetzt wurden. Außer der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) haben sich alle Sachverständigen für Abmilderungen bei den Sanktionsregelungen ausgesprochen.
Rückforderungen bei vermeintlich »sozialwidrigem« Verhalten
Die Bundesregierung plant mit dem Gesetzesentwurf das Leben der Betroffenen sogar noch stärker zu kontrollieren und zu drangsalieren. So sollen zukünftig von den Jobcentern Ersatzansprüche an die Leistungsberechtigten geltend gemacht werden können, wenn sie durch ihr vermeintlich „sozialwidriges“ Verhalten ihre Hilfebedürftigkeit nicht reduzieren, erhöhen oder aufrechterhalten. Frank Jäger von der Wuppertaler Sozialberatung Tacheles e.V. erläuterte dem Ausschuss die Auswirkungen dieser „faktischen Erweiterung der SGB-II-Sanktionen durch Rückforderung von Leistungen“. Behördlicher Willkür würde angesichts der Unbestimmtheit der Begriffe Tür und Tor geöffnet, gegen die Betroffenen sich nur schwer zur Wehr setzen können. Verhaltensweisen, die bereits nach geltendem Recht eine Sanktion nach sich ziehen, müssten künftig zusätzlich auf das Vorliegen eines „sozialwidrigen Verhaltens“ geprüft werden. In Ergebnis bedeutete dies eine „zeitlich unbefristete, der Höhe nach unbestimmte, unverhältnismäßige Doppelbestrafung“. Im Klartext: Die Regierungsfaktionen und die Bundesregierung will ein zweites Sanktionsregime auf- beziehungsweise ausbauen.
Kürzungen bei Alleinerziehenden
Mehr als 40.000 Unterschriften hat eine ONLINE-PETITION gegen die Kürzungen bei den Alleinerziehenden in kürzester Zeit gefunden. Diese wurden im Vorfeld der Anhörung an Matthias W. Birkwald und die Ausschussvorsitzende Kerstin Griese übergeben. Einen „Skandal“ nannte Matthias W. Birkwald dieses Vorhaben der Bundesregierung. Klare Worte fanden auch die Sachverständigen zu der geplanten Kürzung von Leistungen des Kinderregelbedarfs bei Alleinerziehenden, wenn sich das Kind vorübergehend bei dem umgangsberechtigen Elternteil befindet. Das ist eine „deutliche Verschlechterung“ gegenüber der aktuellen Praxis – urteilten u.a. die Sachverständigen Jäger und Sell. Beide Sachverständigen betonten, dass in der empirisch häufigsten Konstellation – Mutter leistungsberechtigt, der Ex-Partner aber nicht – eine Kürzung bei der Mutter derzeit nicht stattfindet. Dies bestätigte indirekt die Bundesagentur für Arbeit, denn: der Sachverhalt „temporäre Bedarfsgemeinschaft“ werde von Amts wegen gar nicht geprüft, sondern erst auf Initiative eines Elternteils betrachtet. Zukünftig soll – nach dem publik gewordenen Willen der Regierung, die aber formell noch kein Bestandteil des Gesetzes ist – grundsätzlich jeder Tag beim untergangsberechtigten Ex-Partner zu Kürzungen bei dem anderen Elternteil führen. Mehrere Sachverständige sprechen sich mit Nachdruck gegen Kürzungen bei der – zumeist – Mutter aus und fordern einen Umgangsmehrbedarf für den Partner. Eine einfache Lösung, die auch der Bundesrat befürwortet. Die Regierungsfraktionen müssen diese Lösung nur umsetzen wollen. Die Opposition plädiert mit Nachdruck für diese Lösung.
Zwangsverrentung: Massive Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts
Das Recht einfacher umsetzbar machen – dies war die ursprüngliche Zielsetzung des Gesetzgebungsverfahrens. Leider hat die Bundesregierung zentrale Maßnahmen, die diesem Ziel dienen würden und gleichzeitig die Rechtsstellung der Leistungsberechtigten verbessern würde, nicht aufgegriffen. So wäre die Abschaffung oder doch zumindest Einschränkung der Sanktionen eine erhebliche Entlastung der Jobcenter, die aber nicht stattfinden soll. Ebenso ist auch der Verweis von Hartz-IV-Leistungsberechtigten vorzeitig mit Abschlägen in Rente gehen zu müssen („Zwangsverrentung“) gleichermaßen eine massiven Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen wie eine administrativ aufwändiges Verfahren. Die durch Zwang exekutierte Verrentung von Hartz-IV-Leistungsberechtigten muss schlicht und einfach abgeschafft werden. Dieser Forderung der LINKEN schlossen sich zahlreiche Sachverständige von den Sozialverbänden über den DGB bis zu den Einzelsachverständigen Sell, Jäger und Hilgendag an.
Weg mit den Sanktionen
Katja Kipping zieht nach der Anhörung folgende Konsequenz: „Andrea Nahles macht Erwerbslosen, Aufstockenden und Jobcenter- Mitarbeiter*innen das Leben noch schwerer. Unter der Überschrift SGB-II-Rechtsvereinfachungen plant die Sozialministerin mit SPD-Parteibuch weitere Verschärfungen von Hartz IV. In der heutigen Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales hat sich mir erneut bestätigt: Wenn es nach Andrea Nahles geht, kommen neue Sanktionsmöglichkeiten, mehr Druck zur Zwangsverrentung und mehr Ärger für Alleinerziehende. Wir sagen: Weg damit und her mit der sanktionsfreien Mindestsicherung von derzeit 1050 Euro netto.“
linksfraktion.de, 31. Mai 2016
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