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Matthias W. Birkwald

"Die Regelaltersgrenze hoch zu setzen, das ist Klassenkampf von oben"

Interview mit Matthias W. Birkwald in der Wochenzeitung "Das Parlament"

01.12.2016

Das Parlament: Herr Birkwald, die Koalition hat sich kürzlich auf eine Angleichung der Ost-West-Renten bis 2025 festgelegt. Sie fordern das seit Jahren. Sind Sie zufrieden?
Matthias W. Birkwald: Nein, weil jemand, der 1990 in Rente gegangen ist, 100 Jahre alt werden muss, um diese Angleichung zu erleben. Das ist viel zu spät. Außerdem will die Koalition gleichzeitig die Umrechnung der Löhne abschaffen, also das Verfahren, um die im Durchschnitt um 24 Prozent geringeren Löhne im Osten den West-Gehältern bei der Rentenberechnung anzugleichen. Das halten wir für sehr ungerecht. Deswegen muss man die Umrechnung so lange beibehalten, bis auch die Löhne ungefähr bei 96 Prozent liegen.

Menschen mit einer Erwerbsminderungsrente sind häufig von Altersarmut betroffen. Nun soll die Zurechnungszeit um drei Jahre verlängert werden. Das heißt, bei der Berechnung der Rente wird fiktiv angenommen, der Betroffene hätte zu seinem individuellen Durchschnittsverdienst bis 65 Jahre weitergearbeitet.
Das ist im Kern sehr gut. Aber niemand der heute davon Betroffenen hat von den Vorschlägen etwas, weil nur Neurentner mit der Reform gemeint sind. Zweitens: Die durchschnittliche Erwerbsminderungsrente liegt bei 711 Euro. Der durchschnittlich anerkannte Grundsicherungsbedarf für Erwerbsgeminderte im SGB XII liegt bei 766 Euro. Selbst mit diesen 50 Euro, die die längere Zurechnungszeit bringen, liegen die Betroffenen immer noch fünf Euro unter dem Grundsicherungsbedarf. Deswegen fordern wir, die völlig unsystematischen Abschläge bei der Erwerbsminderungsrente abzuschaffen. Denn 96 Prozent der Betroffenen gehen mit vollen Abschlägen von knapp 11 Prozent in die Erwerbminderungsrente. Das würde durchschnittlich 76 Euro mehr bedeuten.

Auch Geringverdiener und Menschen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien sind von Altersarmut bedroht. Was wollen Sie als Linke denen anbieten?
Wir brauchen ein Leben ohne Armut und in Würde für alle Menschen. Nach der europaweit geltenden Grenze ist ein in Deutschland allein lebender Mensch arm oder von Armut bedroht, wenn er oder sie weniger als 1.033 Euro im Monat zur Verfügung hat. Deswegen brauchen wir eine einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente von 1.050 Euro netto. Niedrige Rentenansprüche sollen durch eine Zulage auf die Höhe von 1.050 Euro netto gebracht werden.

Andrea Nahles plädiert in ihrem Konzept einer „Solidarrente“ für einen 10-Prozent-Zuschlag auf die Grundsicherung für langjährig Versicherte.
Damit wären die Menschen immer noch nicht aus der Altersarmut raus. Und vor allem: Es soll sich an der Begrenzung des Schonvermögens von derzeit 2.600 Euro und bald 5.000 Euro nichts ändern, das man besitzen darf, wenn man Grundsicherung im Alter bekommt. Wird jemand also mit 55 Jahren unverschuldet arbeitslos, muss er erstmal sein lange erspartes Geld aufbrauchen. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass man 20.000 Euro und pro Lebensjahr zusätzlich 750 Euro Erspartes behalten darf. Wir müssen den Menschen aus der Mittelschicht die Angst vor dem Abstieg nehmen.

Sozialverbände und Gewerkschaften warnen vor einer Lawine der Altersarmut. Die Union argumentiert, dass nur drei Prozent der über-65-Jährigen Grundsicherungsleistungen beziehen.
Union und Arbeitgeber versuchen gerade, Kinderarmut und Altersarmut gegeneinander auszuspielen. CDU-Finanzstaatssekretär Jens Spahn behauptet faktenwidrig, es gäbe nur drei Prozent Arme im Alter. Er meint damit jene, die Grundsicherung bekommen. Das sind die Ärmsten der Alten. Nach EU-weit gültigen Kriterien ist der Anteil ähnlich hoch wie bei den Kindern. Wir haben ungefähr 2,5 Millionen arme Kinder und 2,8 Millionen Menschen in Altersarmut. Wir müssen beides bekämpfen. Es ist unwürdig, den heute schon armen Alten in Talkshows zu erzählen, es gäbe sie nicht.

Ist Ihre Forderung nach Abschaffung der Rente ab 67 vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um Altersgrenzen nicht völlig illusorisch?
Das Robert-Koch-Institut hat im April 2016 eine große Studie vorgestellt, aus der hervorgeht, dass die Lebenserwartung nur für durchschnittlich und besser Verdienende steigt. Im Gegenzug haben vor allem jene Männer in körperlich anstrengenden Jobs eine um 10,8 Jahre geringere Lebenserwartung. Eine Krankenschwester geht mit zirka 60 Jahren in Rente, Bauarbeiter noch eher. Die erreichen noch nicht einmal die Altersgrenze von 65 Jahren. Diese Menschen müssen doch wenigstens etwas von ihrer eh schon niedrigen Rente haben. Die Regelaltersgrenze hoch zu setzen, das ist Klassenkampf von oben, der besser Verdienenden gegen jene, die die harten Jobs machen.

Reicht ein höheres Rentenniveau allein aus, um eine lebensstandardsichernde Rente zu bekommen?
Ja. Es kommt auf die Höhe an. Alle Fachleute sind sich einig, dass 53 Prozent Sicherungsniveau vor Steuern lebensstandardsichernd sind. Das war ja auch das Niveau, das wir im Jahr 2000 hatten, bevor die rot-grüne Bundesregierung das Rentenniveau in den Sinkflug geschickt hat.

Was entgegnen Sie der Kritik, das sei nicht finanzierbar?
In der Öffentlichkeit wird immer mit Milliardensummen argumentiert. Das ist unseriös. Aber: Wenn man das Rentenniveau auf 53 Prozent anhöbe, dann müsste eine durchschnittlich verdienende Beschäftigte mit 3.022 Euro brutto im Monat ungefähr 33 Euro mehr in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen als jetzt. Gleichzeitig würde aber der Grund für die Riester-Rente entfallen. Sie hätte also letztlich mehr Geld im Portemonnaie. Die einzigen, die etwas dagegen haben, sind die Arbeitgeber, weil es ihnen in der Summe den Profit wegnimmt.

73 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland sind in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert. Wäre ein inklusiveres Modell für alle die Lösung?
Ja. Wir möchten, dass alle Menschen mit Erwerbseinkommen in die gesetzliche Rente einzahlen, also auch Abgeordnete, Beamte, Freiberufler. Das würde das System deutlich stabilisieren. Wir wollen aber auch die Beitragsbemessungsgrenze in einem ersten Schritt deutlich anheben und später ganz abschaffen und daraus resultierende ganz hohe Renten abflachen.

Viele Solo-Selbstständige können sich die Beiträge aber nicht leisten.
Das Problem ist, dass es heute eine Mindestbeitragsleistung gibt, die mit den realen Verdiensten der Selbstständigen nichts zu tun hat. Jeder zweite Selbstständige muss im Alter von weniger als 1.000 Euro leben, bei den abhängig Beschäftigten ist es nur jeder dritte. Deswegen müssen Solo-Selbstständige so einbezogen werden, dass sich die Beiträge an ihrem tatsächlichen Einkommen orientieren.

Schnell umgesetzt werden soll nun eine Reform der Betriebsrenten.
Frau Nahles hat vorgeschlagen, dass die Arbeitgeber in Zukunft keinerlei Haftung mehr für das übernehmen, was die Arbeitnehmer dann bekommen. Im Gegenzug sollen sie die dadurch eingesparten Sozialbeiträge dem Arbeitnehmer geben, aber, laut Referentenentwurf, nur in Höhe von 15 Prozent. Die Sozialversicherungsbeiträge liegen aber mit Unfallversicherung Und Insolvenzumlage zwischen 19 und 23 Prozent. Diese müssten also mindestens erstattet werden. Bisher wird dagegen festgeschrieben, dass die Arbeitgeber mit der Betriebsrente noch ein Geschäft machen dürfen.

Das Gespräch führte Claudia Heine.