Ein Interview mit Matthias W. Birkwald, MdB, rentenpolitischer Sprecher und Parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion DIE LINKE, zu den Wahlkampfthemen Rente, Altersvorsorge und bAV.
IST DEUTSCHLAND GUT VORBEREITET, UM DIE HERAUSFORDERUNG EINER ALTERNDEN BEVÖLKERUNG ZU MEISTERN?
Matthias W. Birkwald MdB – DIE LINKE: Die Frage ist etwas irreführend, vermutlich steckt dahinter die Annahme, dass – vorausgesetzt, die Bevölkerungsentwicklung gehe weiter wie bisher – künftig immer weniger Arbeitnehmer*innen über die Rentenversicherung immer mehr Rentner*innen finanzieren müssten.
Diese Sichtweise ist zu verkürzt.
Zum einen übersieht die sogenannte Generationenfrage oft das Wirtschaftswachstum und die wachsende Produktivität. Auf lange Sicht haben wir bis dato immer Wirtschaftswachstum gehabt und die Arbeitsproduktivität steigt beständig. Es kommt aber darauf an, die Zuwächse gerecht zu verteilen. Wenn die Arbeitnehmer*innen ihren fairen Anteil am Produktivitätszuwachs erhielten, wird klar: bei höherer Produktivität ist es kein großes Problem, wenn weniger Arbeitnehmer*innen die Renten finanzierten.
Zum andern ist es nicht korrekt, die 20-65-Jährigen auf der einen Seite nur denjenigen über 65 Jahren gegenüber zu stellen. Erstens ignoriert diese Annahme völlig, dass es nicht auf die Anzahl der Menschen zwischen 20 und 65 ankommt, sondern auf deren Erwerbsbeteiligung. Und die steigt beständig. Zweitens müssen auch Personen vor ihrem Berufseintritt in die Rechnung aufgenommen werden, also alle zwischen Geburt und Eintritt ins Berufsleben. Nimmt man den Anteil der Deutschen über 65 und den derjenigen unter 20 Jahren zusammen und vergleicht diese Zahl mit der Bevölkerung im Erwerbsalter (das ist der so genannte Gesamtquotient), ergibt sich ein völlig anderes Bild als beim reinen Blick auf den Anteil der Rentner*innen: Der prognostizierte Gesamtquotient für die nächsten Jahrzehnte wird immer noch deutlich niedriger sein als der für die Jahrzehnte um 1900! Und drittens muss für die Zukunft sehr zu meinem Bedauern aus heutiger Sicht mit 20 bis 67 und über 67 gerechnet werden, weil fälschlicherweise und völlig unnötig die Rente erst ab 67 eingeführt wird. Die wieder abzuschaffen kostet übrigens eine Durchschnittsverdienerin und ihre Chefin derzeit nur rund acht Euro mehr an Rentenbeiträgen.
Dennoch: Deutschland ist nicht gut gerüstet. Es gibt ein wachsendes Problem der Altersarmut. Wenn nicht gegen gesteuert wird, müssen wird damit rechnen, dass sich bis 2030 der Anteil der armen Alten in Deutschland verdoppelt. Heute leben etwa 2,7 Millionen Ältere in Deutschland in Armut (16,5 Prozent der über 65-Jährigen, zwei Drittel davon Frauen), gemessen an der Armutsschwelle nach dem Europäischen Amt für Statistik. In 2030 wären es dann etwa 33 Prozent. Da hilft auch der Riester-Irrweg nichts, bei dem Arbeitnehmer*innen alleine mit viel zu teuren Produkten die politisch willkürlich gerissene Rentenlücke stopfen sollen.
Und die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung ist auch nicht ausreichend gesichert.
FÜR DIE LINKE IST RENTE EIN ZENTRALES WAHLKAMPFTHEMA. WAS MUSS DRINGEND VERBESSERT WERDEN BEI DER GESETZLICHEN RENTE, DAMIT WIR EINE „RENTE ZUM LEBEN“ HABEN? WELCHES SIND DIE KERNPUNKTE IHRES WAHLPROGRAMMS HIERZU?
Matthias W. Birkwald MdB – DIE LINKE: Weil die Rente immer auch die Löhne während des Arbeitslebens abbildet, müssen wir schon da ansetzen. Wir müssen dafür sorgen, dass das Normalarbeitsverhältnis mit unbefristeter Vollzeit wirklich wieder zum Normalfall wird, wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn von zwölf Euro. Und die gesetzliche Rentenversicherung muss wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Die Sicherung des Lebensstandards im Alter muss wieder in den Mittelpunkt rücken, das Rentenniveau muss wieder auf die Höhe, die es vor den rotgrünen „Reformen“ hatte: 53 Prozent. Ab dieser Höhe kann der Lebensstandard im Alter in der Regel gehalten werden. Private Altersvorsorge wird dann für die Lebensstandardsicherung überflüssig und kann ohne steuerliche Förderung dazu kommen – sie kann, aber sie muss nicht.
Daneben brauchen wir endlich gleiche Renten in Ost und West, nicht erst, wie von der großen Koalition beschlossen, 2024. Und vor allem nicht zu Lasten der künftig ab 2025 in Rente gehenden Beschäftigten im Osten. Denen haben SPD und CDU/CSU nämlich mit ihrem Gesetz massiv die Renten gekürzt, weil die Umrechnung der niedrigen Ostlöhne in der Rente ab 2025 gestrichen wurde. Und die Ungerechtigkeit, dass für die Kindererziehung vor 1992 zwei Rentenpunkte, für ab 1992 geborene Kinder drei Punkte gutgeschrieben werden, muss enden. Drei Entgeltpunkte für jedes Kind, egal wann geboren und egal, ob in Dresden oder in Köln geboren. Das wären derzeit 93,09 Euro aus Steuermitteln für jedes Kind. Für Zeiten mit niedrigen Einkommen wollen wir die so genannte „Rente nach Mindestentgeltpunkten“ entfristen, also wieder einführen und verbessern: Wer lange in seinem Leben für einen Lohn deutlich unter dem durchschnittlichen Gehalt arbeiten musste, erhielte bei der Rente einen Ausgleich, so dass er oder sie bis zu 80 Prozent des Durchschnitts an Rente bekäme.
Und wenn all dies nicht für eine armutsfeste Rente im Einzelfall genügte, dann wollen wir eine Einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente in Höhe von 1.050 Euro netto einführen. Wer im Alter ein Einkommen unter 1.050 Euro netto hätte und nicht über ein Vermögen von mehr als 68.750 Euro verfügte, erhielte aus Steuermitteln einen Zuschlag bis zur Höhe von monatlich 1.050 Euro netto. Beispiel: Frau Schmitz hat 650 EUR eigene Rente und 250 Euro Witwenrente und 30.000 Euro Erspartes. Dann würde sie 150 Euro Zuschlag erhalten. Das Ziel lautet: Niemand soll im Alter von weniger 1.050 Euro leben müssen.
Auf der anderen Seite wollen wir die Versichertenbasis deutlich verbreitern. Solo-Selbstständige, die häufig nicht über eine ausreichende Altersvorsorge verfügen, wollen wir ebenso in die gesetzliche Rentenversicherung aufnehmen wie Beamt*innen, Politiker*innen, Freiberufler*innen, Manager*innen und Unternehmer*innen. Und wir wollen die Beitragsbemessungsgrenze zunächst drastisch anheben und später aufheben, sehr hohe Rentenansprüche aber dafür abflachen. Mit dieser echten Erwerbstätigenversicherung werden sehr viel mehr Beiträge in die Rentenversicherung fließen, womit wir die Finanzierung der gesetzlichen Rente deutlich verbessern können.
SIND DIE ÄNDERUNGEN, DIE IM RAHMEN DES BETRIEBSRENTENSTÄRKUNGSGESETZES ZUM 01.01.2018 IN KRAFT TRETEN, AUSREICHEND, UM DIE BETRIEBLICHE ALTERSVERSORGUNG ZU STÄRKEN ODER WAS MÜSSTE SONST NOCH GETAN WERDEN?
Matthias W. Birkwald MdB – DIE LINKE: Das Betriebsrentenstärkungsgesetz stärkt nicht die Betriebsrente, es schwächt sie und stärkt die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen. Die neu eingeführte „reine Beitragszusage“ lässt die Arbeitnehmerin allein im Regen stehen: Die Arbeitgeberin leistet ihre Zahlung in die Betriebsrente, damit ist sie vollständige aus der Verantwortung. Es gibt keinerlei Haftung mehr. Und: der Arbeitnehmer muss bei dieser neuen Form der Betriebsrente auch noch auf jede versicherungsförmige Form der Mindestrendite verzichten. Das ist Glücksspiel mit der Altersvorsorge und eher eine Pokerrente als eine Zielrente.
Zudem ist die mit dem Gesetz vorgeschriebene Mindestbeteiligung des Arbeitgebers von 15 Prozent eigentlich nur Augenwischerei: Durch die Entgeltumwandlung mindert sich das sozialversicherungspflichtige Einkommen der Angestellten. Also sinkt auch der Arbeitgeberanteil an den Sozialabgaben entsprechend – und ganz nebenbei der Anspruch auf die gesetzliche Rente, die Versorgungslücke wird also größer. Aber der Arbeitgeberanteil sinkt nicht um 15 Prozent dessen, was die Angestellte einzahlt, sondern um etwas über 20 Prozent, schließlich fallen auch die Beiträge zur Unfallversicherung und zur Insolvenzumlage weg. Und: damit eine betriebliche Altersversorgung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wirklich sinnvoll ist, müsste der Arbeitgeber sich mit der Hälfte beteiligen. Mindestens.
Sinnvoll wäre es, die Höherversicherung in der gesetzlichen Rente wieder einzuführen. Dann könnten Arbeitgeber*innen und Beschäftigte bis zu einer bestimmten Summe freiwillig zusätzliche Rentenbeiträge auf das persönliche Rentenkonto des oder der Beschäftigten einzahlen. Es bräuchte dann weder bAV noch private Vorsorge und man könnte die eigene gesetzliche Rente steigern. Man könnte, müsste es aber nach dem Rentenkonzept der LINKEN nicht.
DIE FDP FORDERT – ALS EINZIGE PARTEI – EIN „ONLINE-VORSORGEKONTO“ FÜR MEHR TRANSPARENZ IN DER ALTERSVORSORGE. WAS HALTEN SIE VON DIESEM ANSATZ?
Matthias W. Birkwald MdB – DIE LINKE: Das von der FDP geforderte „Online-Vorsorgekonto“ könnte sinnvoll sein, wenn man – wie die FDP – an der überteuerten und unsicheren Riester-Rente und anderen privaten und betrieblichen Rentenmodellen festhält, um die Rentenlücke zu stopfen. Da aber aus Sicht der LINKEN die gesetzliche Rentenversicherung die Lebensstandardsicherung im Alter wieder übernehmen soll und weil damit die erforderliche Rente an einer Stelle aufläuft, haben wir den One-Stop-Shop schon. Sicher: die Rentenbescheide und Standmitteilungen der Rentenversicherung deutlich verständlicher zu gestalten, wäre gut, aber ein neues Vorsorgekonto brauchen wir nicht. Es schadete aber auch nicht.
Link zum Artikel: deutsche-betriebsrente.de/2017/07/welche-ziele-hat-die-linke-fuer-meine-rente/
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