Herbsterwachen: Sehr geehrter Herr Birkwald, Sie haben vergangenen Freitag in einem Vortrag auf Probleme im bestehenden Rentensystem hingewiesen. Dort haben Sie betont: Seit Blüms „sicherer Rente“ wurde runterreformiert. Wo besteht denn exemplarisch ein absolut akuter Handlungsbedarf?
Birkwald: Der größte Handlungsbedarf besteht ganz klar beim Rentenniveau und damit bei der Frage, ob Renten noch den im Arbeitsleben erreichten Lebensstandard sichern. Das Rentenniveau darf nicht nur auf dem heutigen Stand stabilisiert werden, wie es die SPD und die Grünen fordern. Denn dann schreibt man die Rentenkürzungen der vergangenen 15 Jahre einfach in die Zukunft fort. Das Rentenniveau muss dringend auf 53 Prozent angehoben werden.
Nur ein Rentenniveau von mindestens 53 Prozent, wie es im Jahr 2000 galt, sichert den Lebensstandard im Alter. Eine Standardrentnerin oder ein Eckrentner hätte dann heute 123 Euro mehr Rente im Monat in der Tasche. Netto. Und 2030 wären es dann 313 Euro mehr!
Wichtig ist aber auch, dass Lücken in der Erwerbsbiographie, zum Beispiel durch Kindererziehung, Pflege, Niedriglöhne oder Arbeitslosigkeit, nicht zu Altersarmut führen. Deshalb fordern wir drei Entgeltpunkte für alle Kinder, also auch für diejenigen, die vor 1992 geboren wurden, finanziert aus Steuermitteln und wir brauchen wieder eine “Rente nach Mindestentgeltpunkten” und für Langzeiterwerbslose müssen endlich wieder Beiträge in die Rentenkasse eingezahlt werden.
Wenn das aber alles nicht reicht, dann sagt DIE LINKE: Niemand soll als Alleinlebender im Alter unter der Armutsschwelle von 1.050 Euro netto leben müssen. Das wollen wir in Form einer einkommens- und vermögensgeprüften Solidarischen Mindestrente für alle Menschen ab 65 garantieren.
Herbsterwachen: Ist es unumgänglich, das Renteneintrittsalter immer weiter zu erhöhen? Viele Experten begründen eine kontinuierliche Steigerung des Eintrittsalters ja mit dem demografischen Wandel.
Birkwald: Sorry, aber das ist Quatsch. Wenn man sich mal die Bevölkerungsentwicklung der Vergangenheit anschaut, dann hat sich das Verhältnis von Jungen zu Alten von 1910 bis 1950 fast halbiert. Dagegen ist der demographische Wandel der Zukunft eher ein Klacks. Entscheidend ist auch nicht das Verhältnis von Kindern zu Älteren, sondern von Beitragszahlenden zu Rentnerinnen und Rentnern. Da spielt die Beschäftigung eine sehr große Rolle, da spielt die Frage, ob wir Flüchtlinge und deren Kinder integrieren eine große Rolle und da spielt eben auch die Verteilung des ja vorhandenen gesellschaftlichen Reichtums eine große Rolle.
Wir haben es ausgerechnet: Wenn die Produktivität je Erwerbstätigem auch weiterhin Jahr für Jahr nur um ein Prozent stiege, wüchse der Kuchen (das Bruttoinlandsprodukt real in Preisen von 2015) von drei Billionen Euro (2015) auf 3,8 Billionen Euro (2060) an und das bedeutet dann: Auch das Kuchenstück für jeden Einzelnen (Bruttoinlandsprodukt pro Kopf) wüchse von 37.000 Euro auf 50.242 Euro. Trotz Bevölkerungsrückgang und trotz Alterung wäre also noch genug Geld da, um es zwischen Alt und Jung gerecht zu verteilen.
Und übrigens: Die Rücknahme der Rente erst ab 67 würde nach den Angaben der Deutschen Rentenversicherung einen halben Beitragssatzpunkt kosten. Das wären keine achte Euro für durchschnittlich verdienende Beschäftigte und ebenfalls weniger als acht Euro für Ihre Chefinnen oder Chefs. Das ist ungefähr genauso “teuer” wie die zu Unrecht aus Beitragsmitteln finanzierte “Mütterrente”.
Herbsterwachen: Am Beispiel Österreich haben Sie gezeigt, dass es erhebliche Qualitätsunterschiede zu Deutschland gibt. Woran liegt es, dass in Österreich ein erheblich besseres Niveau vorherrscht? Bezuschusst der Staat dort nicht auch die Rentenkassen aus Steuermitteln?
Birkwald: Natürlich finanziert in Österreich der Staat die sogenannten versicherungsfremden Leistungen, also Renten aus der Kindererziehungszeit oder auch die in Österreich hervorragend aufgestellte Mindestrente („Ausgleichszulage“). Da bekommen alle bedürftigen Rentnerinnen und Rentner 1038 Euro monatliche Mindestrente im Alter garantiert und wenn man 30 Beitragsjahre geschafft hat, sind es sogar 1167 Euro im Monat! Aber der Hammer sind eben die durchschnittlichen Renten – das musste jetzt sogar die Kanzlerin zugeben: Männer erhalten dort im Durchschnitt 2.247 Euro Rente im Monat brutto und damit 1085 Euro mehr als bei uns und Frauen immerhin noch 1274 Euro und damit 358 Euro mehr als die Rentnerinnen in Deutschland (inklusive Witwen- und Witwerrenten)!
Und ich war ja kürzlich zweimal in Österreich. Da gibt es eine ganz einfache Garantieformel: 80/45/65 und das heißt man bekommt 80 Prozent Rente vom Lebensdurchschnittseinkommen nach 45 Beitragsjahren bei Rentenantritt zum Alter 65.
Dort sagt der Sozialminister also nicht als erstes: Alles nicht bezahlbar, alles viel zu teuer, sondern dort sagt der Sozialminister: Wir sind den Rentnerinnen und Rentnern eine anständige gesetzliche Rente schuldig und dann wird das auch finanziert. Da werden dann die Reichen mit Steuern an der Finanzierung beteiligt. Da zahlen die Unternehmen einen höheren Betrag als die Beschäftigten und da wurden auch die Beamten und die Politiker schrittweise in die Rente einbezogen und in Österreich sollen die Beschäftigten auch nicht vier Prozent ihres Gehaltes in schlechte Riesterrenten stecken, wie das bei uns der Fall ist.
Herbsterwachen: Die Zinsen am Kapitalmarkt sind im Keller. Börsenaktivitäten sind mit Risiken verbunden. Welche Anlagemöglichkeiten zur Altersvorsorge gibt es noch? Kann man als Strategie auch zusätzliches Geld in die Rentenversicherung einzahlen, also Rentenpunkte „dazu kaufen“?
Birkwald: Ja, wir lesen ja jetzt jeden Tag in den Zeitungen und Fachzeitschriften, dass Riestern nichts bringt, dass viele neue Betriebsrenten und vor allem die “sozialabgabenfreie Entgeltumwandlung” meist ein Draufzahlgeschäft sind und rund die Hälfte der Bevölkerung sich eben auch keine Eigentumswohnung bzw. kein eigenes Haus leisten kann. Leider. Darum gilt: Die gesetzliche Rente ist wegen ihrer Krisenfestigkeit, ihrer niedrigen Verwaltungskosten und ihrer hohen Rendite immer noch unschlagbar. Deshalb bin ich auch dafür, dass die Menschen ihre Riesterguthaben in die gesetzliche Rente überführen dürfen sollen. Freiwillig natürlich und ich sage auch allen Versicherten, dass sie die Möglichkeiten nutzen sollen, die es heute schon gibt. Man kann ja jetzt, leider erst ab 50, die zu erwartenden Abschläge bei einer Frühverrentung zurückkaufen und so seine Rente erhöhen, egal, ob man dann früher in Rente geht oder nicht. Das ist gegenwärtig die attraktivste zusätzliche Altersvorsorge auf dem Markt. Das ist DIE Alternative zu Riester und auch zur neuen Nahles-Betriebsrente ohne jegliche Garantie und das zeigt sehr gut die Bedeutung der gesetzlichen Rente.
Herbsterwachen: Was halten Sie von der Flexi-Rente, die im Juli 2017 in Kraft getreten ist?
Birkwald: Um es kurz zu machen: 1. Die neue Teilrente versteht kein Mensch und sie ist ein bürokratisches Monster. 2. Nach der Regelaltersgrenze weiter zu arbeiten ist finanziell schon heute attraktiv und erhöht die eigene Rente jährlich um bis zu neun Prozent! Aber das ist für Viele aufgrund der körperlichen oder seelischen Belastung keine Alternative. Viele Menschen wollen und können nicht arbeiten bis zum Umfallen und die Arbeitgeber kümmern sich noch viel zu wenig um ihre älteren Beschäftigten. Außer in Sonntagsreden natürlich. Wo es aber – drittens – richtig brennt, ist bei all denen, die es nicht bis zur Regelaltersgrenze schaffen. Die Erwerbsminderungsrenten sind wegen der hohen Abschläge viel zu niedrig und Union und SPD halten an der Rente erst ab 67 fest, die in Zukunft zu Rentenkürzungen von bis zu 14,4 Prozent führen kann. Diese Menschen brauchen Antworten und keine Debatte über die Rente erst ab 70.
Herbsterwachen: Wirtschaftsliberale setzen auf die „unsichtbare Hand“ des Marktes, andere Denkschulen wünschen sich ein starkes staatliches Regulativ, wieder andere setzen auf eine Kombination von staatlicher und privater Vorsorge. Welche Richtung ist in Ihren Augen zeitgemäß?
Birkwald: Ganz klare Antwort: Wir wollen die gesetzliche Rente stärken und ausbauen. Sie muss den Lebensstandard im Alter sichern und sie muss vor Armut schützen!
Herbsterwachen: Welchen Einfluss haben Interessenvertretung auf die Arbeit im Ausschuss? Gibt es Unterschiede darin, wie offen die einzelnen Fraktionen gegenüber Lobbyisten auftreten?
Birkwald: Man muss schon unterscheiden. Es gibt natürlich Lobbyisten aus der Wirtschaft, die sich in Hinterzimmern und über Spenden an Parteien Einfluss verschaffen, wie zum Beispiel die Versicherungsbranche, die weiter mit viel staatlicher Förderung ihre schlechten Riesterverträge verkaufen will. Alle großen Parteien erhalten Spenden von Banken, Versicherungen, Konzernen und Lobbyverbänden. Nur DIE LINKE nicht, denn wir sind nicht käuflich.
Aber im Ausschuss für Arbeit und Soziales sind die Positionen von Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und der Wissenschaft natürlich wichtig und auch transparent für Alle nachvollziehbar. Da kann dann auch jede und jeder nachlesen, was die Verbraucherschützer, die Caritas oder die Diakonie von der aktuellen Rentenpolitik halten. Diese Organisationen sind ein wichtiges Sprachrohr für die Betroffenen. Die wissen aus den Sozialberatungen genau, wie die Menschen leiden, wenn sie sich im Alter ihre Medikamente nicht mehr leisten können oder an der Heizung sparen müssen.
Herbsterwachen: Herr Birkwald, wie wirkungsvoll ist die Arbeit in der Opposition? Denken Sie, dass Sie durch Ihre Präsenz den Diskurs zumindest beeinflussen können? Oder wird es Zeit für eine Regierungsbeteiligung?
Birkwald: Als erstes finde ich natürlich, dass es Zeit ist für eine LINKE Regierung auch auf Bundesebene. In Berlin und Thüringen klappt es doch im Moment ganz gut und den Rentnerinnen und Rentnern würde es dann auch besser gehen. Aber man muss auch realistisch bleiben: Im Moment sieht es nicht danach aus, dass die SPD genug Stimmen für einen Richtungswechsel bekommen wird und außerdem wollen sie auf Bundesebene auch nicht mit uns koalieren. Deshalb ist eine starke LINKE im Bundestag als Oppositionskraft sehr wichtig. Wir sind die Partei, die für eine paritätische Krankenversicherung Druck macht. Wir machen Druck für sichere Renten und gute Löhne und ich glaube auch, dass wir damit den Diskurs in der Sozialpolitik wesentlich mitbestimmen.
Schauen Sie sich mal an in wie vielen Talkshows und Magazinen jetzt Österreich als Beispiel für eine gute Rentenpolitik genommen wird. Das hat vor allem DIE LINKE in die Öffentlichkeit gebracht. Da gab es eine gewerkschaftsnahe Studie und dann bin ich sofort nach Österreich gefahren. Erst mit einer kleinen Delegation, dann mit dem Ausschuss. Das hat den Rentenwahlkampf geprägt und das wird der Maßstab sein für jede zukünftige Regierung. Und bis vor kurzem wollten SPD und Grüne das Rentenniveau auf bis zu 43 Prozent fallen lassen. Dass sie es jetzt wenigstens nicht weiter senken wollen, ist ein Erfolg LINKER Rentenpolitik und von Gewerkschaften und Sozialverbänden. Und ohne DIE LINKE und ihre Vorgängerparteien PDS und WASG gäbe es bis heute keinen gesetzlichen Mindestlohn. Nur dauert das aus der Opposition heraus viel zu lange.
Herbsterwachen: Sehr geehrter Herr Birkwald, haben Sie vielen Dank für dieses Interview!
Quelle:
Aktueller denn je: Ausführliches Interview im „Versicherungsboten“ zu allen wichtigen Fragen rund um die gesetzliche und die private Rente
Bundestagsrede in der Orientierungsdebatte am 26. Januar 2022