Voller Stolz hielt der Professor den 279 Seiten starken Bericht in die Kameras: Seiner Kommission sei „ein wirklich großer sozialpolitischer Wurf“ gelungen, lobte Bert Rürup sich und seine Mitstreiter. Wenn die Bundesregierung diese Vorschläge umsetze, wäre die Finanzierung der Renten „langfristig gesichert“, sagte der Wirtschaftswissenschaftler. Das war im August 2003, Rot-Grün regierte – und Rürup hatte der damaligen Sozialministerin Ulla Schmidt gerade die Empfehlungen seiner Expertenkommission überreicht. Auftrag der Runde war gewesen, die Sozialversicherungssysteme „zukunftsfest“ zu machen.
15 Jahre später ist es wieder so weit. Im Mai berief Sozialminister Hubertus Heil (SPD) eine neuerliche Rentenkommission ein, die bis zum Frühjahr 2020 Empfehlungen für einen „verlässlichen Generationenvertrag“ vorlegen soll. Die Leitung haben die früheren Bundestagsabgeordneten Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) und Karl Schiewerling (CDU), zudem besteht die zehnköpfige Truppe aus Sozialpolitikern der Koalitionsfraktionen, Wissenschaftlern sowie Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgebern.
Die Kernfrage an die Experten lautet: Wie lässt sich der Lebensstandard der Rentenbezieher dauerhaft sichern, ohne dass die Kosten für die Beitrags- und Steuerzahler explodieren? Im Moment sind die Rentenkassen, dank brummender Konjunktur und einem Rekord an sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen, gut gefüllt. Doch in nicht einmal zehn Jahren gehen die ersten Babyboomer in Rente. Ab 2025 wird es eng, der demografische Wandel wird dem System mit immer deutlich weniger Beitragszahlern und immer mehr Rentnern zu schaffen machen.
Dazu kommt zweierlei. Dank des medizinischen Fortschritts werden die Menschen älter, die Phase ihres Rentenbezugs verlängert sich. Und durch die anhaltende Niedrigzinsphase haben die beiden anderen „Säulen“ der Altersabsicherung – Betriebsrenten und private Zusatzvorsorge – an Attraktivität verloren. Die Rentenkürzungen der Vergangenheit aber wurden vor allem durch die Erwartung legitimiert, dass sich langfristig und mithilfe staatlicher Anreize immer mehr Menschen zusätzlich absichern.
Weil das nicht so funktioniert hat wie erwartet, muss nachjustiert werden. Bisher haben sich Union und SPD aber nur für die nächsten Jahre festgelegt: Der Beitragssatz darf bis 2025 nicht über 20 Prozent des Bruttolohns steigen (zurzeit 18,6 Prozent), das Rentenniveau soll nicht unter 48 Prozent sinken. Eine solche „doppelte Haltelinie“ wolle man auch langfristig, heißt es. Doch was ist leistbar und auch gesellschaftlich vermittelbar im Spagat zwischen steigender Belastung von Beitragszahlern und der Gefahr zunehmender Altersarmut?
Nach aktueller Gesetzeslage darf das Rentenniveau bis 2030 auf bis zu 43 Prozent sinken und der Beitragssatz auf bis zu 22 Prozent steigen. Für die Zeit danach gibt es keine Vorgaben. Das Prognos-Institut hat aber schon mal gewarnt: Wenn man die Dinge laufen lasse, werde das Rentenniveau bis 2045 auf 42,4 Prozent sinken – und der Beitragssatz trotzdem auf 23,6 Prozent klettern. Und der Münchner Experte Axel Börsch-Supan hat die Sache unter der Vorgabe berechnet, dass man es bei den bisherigen Haltelinien belässt. Schon 2025 würde man ihm zufolge dann pro Jahr elf Milliarden Euro mehr als Steuerzuschuss benötigen. 2035 wären es 80 Milliarden, 2048 gar 125 Milliarden Euro mehr.
Kritiker bezeichneten diese Hochrechnung als Horrorszenario – und kritisierten die Berufung Börsch-Supans in die Rentenkommission mit Bezug darauf aufs Heftigste. Wer von vornherein die Stabilisierung der gesetzlichen Rente mit „Pseudoberechnungen“ als unfinanzierbar bezeichne, habe sich „für jedes verantwortungsvolle Nachdenken über die Zukunft der Altersvorsorge disqualifiziert“, bollerte der Rentenexperte der Linksfraktion, Matthias W. Birkwald.
Eine der ersten Aufgaben der Kommission wird es daher sein, sich auf eine gemeinsame Datenbasis zu verständigen. Im Herbst soll es dazu eigens eine Klausur geben, eine Unterarbeitsgruppe ist bereits gegründet. Das Rad neu erfinden müssen die Experten dabei nicht. Denn auch das war ja ein Verdienst der Rürup- Kommission Anfang der 2000er Jahre: Sie legte erstmals Parameter fest, mit denen auch langfristig halbwegs verlässliche Vorausberechnungen für die Rente möglich sind. Dazu gehören Annahmen zu Beschäftigungsentwicklung, Lohnniveau und Zinsen, aber auch Prognosen zur Zuwanderung und zur Lebenserwartung.
„Diesen Datenkranz werden wir nun überprüfen“, sagt ein Kommissionsmitglied. Schließlich hat sich die Welt in den letzten 15 Jahren durchaus verändert – beispielsweise durch die anhaltende Niedrigzinsphase. „Die Erwartungen, die wir vor zehn Jahren an den privaten Kapitalmarkt hatten, sind einem nüchternen Blick gewichen“, sagt der Sozialpolitiker Stephan Stracke, der für die CSU in dem Gremium sitzt. Es sei wichtig, das Drei- Säulen-Modell unter diesem Gesichtspunkt „noch mal neu zu beleuchten“.
Die Kommission will sich dabei nicht nur auf die eigene Expertise verlassen. Anfang Juli formulierten 54 Verbände in einer zweitägigen Anhörung ihre Wünsche an eine Rentenreform. Man befinde sich momentan noch in der „Phase des Sammelns und Jagens“, sagt CSU-Mann Stracke. Dies dauere „bestimmt bis zum Jahreswechsel“. Schließlich benötige die Kommission einen kompletten Überblick. „Das Schlimmste wäre, wenn es wichtige Studien gäbe, die wir nicht zur Kenntnis nähmen.“
Spätestens im März 2020 soll die Expertenrunde ihre Vorschläge abliefern. In der Geschäftsordnung ist festgelegt, dass im Streitfall eine einfache Mehrheit reicht. Doch den Beteiligten ist klar: Ob sie in der Politik Gehör finden, wird auch davon abhängen, ob sie sich zu einem weitgehend einheitlichen Votum durchringen. Sozialminister Heil jedenfalls verspricht, die nächste Rentenreform nicht auf die lange Bank zu schieben. Er habe den „Ehrgeiz“, noch in dieser Wahlperiode etwas davon umzusetzen.
In der Opposition haben sie daran jedoch Zweifel. Es sei „alles andere als sichergestellt, dass in dieser Legislatur noch irgendwas passiert“, sagt der FDP- Sozialexperte Johannes Vogel. Das ärgert ihn umso stärker, als die Regierenden mit Mütterrente und Eingriff in die Rentenformel durch die doppelte Haltelinie das Problem der langfristigen Finanzierung noch mal verschärft hätten. „Da wurden Wahlkampfgeschenke verteilt, als gäbe kein Morgen“, schimpft er. Kritik gibt es auch an der Zusammensetzung des Gremiums. Es sei „nicht akzeptabel“, dass Experten der Opposition weder in der Kommission vertreten noch zu Anhörungen geladen seien, sagt der Linken-Politiker Birkwald.
Andere führen ein weiteres Ärgernis ins Feld: den Altersdurchschnitt der Kommissionsmitglieder. Er liegt mit 56 Jahren gut zehn Jahre über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Diesen Vorwurf will Kommissionsmitglied Gert Wagner jedoch nicht gelten lassen. Der Vorsitzende des Sozialbeirats der Regierung, der als Forscher am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung tätig ist, weist darauf hin, dass die meisten Kommissionsmitglieder auch Kinder haben, manche sogar Enkelkinder. „Um die mache ich mir mindestens so viel Sorgen wie um mich selbst.“ Die Annahme von Ökonomen, dass alle nur egoistisch an sich selbst und sonst niemanden dächten, sei „lebensfremd“.
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