Ein krankes System – Arbeitnehmer werden oft in die Frührente statt in die Reha geschickt
Chronisch kranke Beschäftigte werden oft in die Frührente geschickt. Gewerkschaften und Arbeitgeber fordern stattdessen den Ausbau von Reha-Maßnahmen.
Bei ihrer Suche nach einem verlässlichen Alterssicherungssystem für die Zeit nach 2025 stellt sich die von der Großen Koalition eingesetzte Rentenkommission auch die Frage, wie Beschäftigte länger im Erwerbsleben gehalten werden können. Ein Problem, das die Expertenrunde identifiziert hat: Arbeitnehmer mit gesundheitlichen Problemen werden in Deutschland viel zu oft in die Frührente geschickt, anstatt sie mit einer medizinischen Reha erwerbsfähig zu halten.
Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung hat von den 165.638 neuen Erwerbsminderungsrentnern im Jahr 2017 nur rund die Hälfte in den fünf Jahren vor Antragsstellung eine Rehabilitationsleistung erhalten. „Im Moment erreichen wir mit der Reha Menschen mit Bedarf viel zu spät“, sagte Annelie Buntenbach, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), dem Handelsblatt.
Die Zahlen der Rentenversicherung zeigen allerdings nicht das ganze Bild. In den Statistiken fehlen medizinische Reha-Maßnahmen, die nach Antragsstellung auf Erwerbsminderungsrente gewährt werden. Die Behörde hat außerdem keinen genauen Überblick, wie viele Betroffene bereits über ihre Krankenkasse an einer Reha teilgenommen haben.
Dennoch: Bei der Vorbeugung von Berufsunfähigkeit und der Wiedereingliederung ins Berufsleben gebe es „noch deutlich Luft nach oben“, konstatiert Buntenbach. Die Rückkehr in den Beruf schaffen Bezieher von Erwerbsminderungsrenten nämlich nur selten.
Die Deutsche Rentenversicherung gibt auf Grundlage von Stichprobenbefragungen an, dass die Chance einer Rückkehr immerhin bei etwa 50 Prozent läge, wenn der Betroffene noch ein ruhendes Arbeitsverhältnis hat. Wenn Erwerbsgeminderte keinen Arbeitsplatz mehr hätten, sei die Vermittlung über die Arbeitsagenturen aber „sehr schwierig“, erklärt die Behörde.
Das Abrutschen in die Erwerbsminderungsrente bedeute für die Betroffenen oftmals „Bedürftigkeit und ein Leben im Existenzminimum“, sagt Buntenbach, die für das Gewerkschaftslager in der Rentenkommission sitzt. Union und SPD haben zwar Verbesserungen für krankheitsbedingte Frührentner beschlossen, die am 1. Januar in Kraft treten. Bei der Berechnung ihrer Rentenansprüche werden sie künftig so gestellt, als hätten sie bis zum regulären Renteneintrittsalter gearbeitet.
Diese Regelung gilt aber nur für neue Fälle. Die rund 1,8 Millionen heutigen Bezieher von Erwerbsminderungsrente müssen weiter mit hohen Abschlägen rechnen, weil sie vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind.
Vor jeder Bewilligung einer Erwerbsminderungsrente prüft die Rentenversicherung, ob der Betroffene durch eine medizinische Reha im Berufsleben gehalten werden kann. Die Zahl der von der Rentenversicherung erbrachten Reha-Leistungen hat sich binnen eines Jahrzehnts um rund 19 Prozent auf gut eine Million im Jahr 2017 erhöht. Hintergrund des Anstiegs ist, dass die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer in ein Alter kommen, in dem eine Reha häufiger notwendig wird. Einen Reha-Platz bekommen aber längst nicht alle angeboten. Das betrifft nach Angaben der Rentenversicherung vor allem Menschen mit schweren psychischen Störungen, Krebserkrankungen im fortgeschrittenem Stadium oder schweren Schlaganfällen.
Bei diesen Krankheitsverläufen könne die Erwerbsfähigkeit nicht wieder hergestellt werden, erklärt die Behörde. Auf der anderen Seite würden Beschäftigte mit gesundheitlichen Problemen oft keinen Reha-Antrag stellen, weil sie finanzielle Belastungen durch Zuzahlungen oder Schwierigkeiten am Arbeitsplatz befürchten.
Der Arbeitgeberverband (BDA) fordert eine bessere Zusammenarbeit von Rentenversicherung, Krankenkassen und Arbeitsagenturen, um chronisch kranke Arbeitnehmer frühzeitig in eine Reha zu lotsen. „Rehabilitation leistet einen wichtigen Beitrag, um die Beschäftigungsfähigkeit von dringend benötigten Arbeits- und Fachkräften zu erhalten oder wiederherzustellen“, sagte Alexander Gunkel, Mitglied der BDA-Hauptgeschäftsführung, dem Handelsblatt.
Die Maßnahmen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation müssten besser aufeinander abgestimmt werden. „Außerdem sollten die Angebote der Berufsförderungswerke noch betriebsnäher gestaltet werden, damit Umschulungen auch tatsächlich dazu führen, dass Rehabilitanden wieder in den Arbeitsmarkt zurückfinden,“ so Gunkel, der ebenfalls der Rentenkommission angehört.
Der FDP-Rentenexperte Johannes Vogel wirft der Bundesregierung vor, dem Grundsatz „Reha vor Rente“ zu wenig Beachtung zu schenken. Das Budget der Rentenversicherung für Reha-Leistungen sei 2014 um rund 100 Millionen Euro und im vergangenen Jahr gut 200 Millionen Euro erhöht worden.
„Nur zum Vergleich: Für die sogenannte Mütterrente und die Rente mit 63 wurden mit dem Rentenpaket 2014 rund neun Milliarden Euro pro Jahr als Wahlgeschenke verteilt“, sagte Vogel dem Handelsblatt. Die im Herbst beschlossene Ausweitung der Mütterrente schlage mit weiteren knapp vier Milliarden pro Jahr zu Buche. Der rentenpolitische Sprecher der Linken im Bundestag, Matthias W. Birkwald, sieht das Problem in der Anhebung des Renteneintrittsalters, ohne gleichzeitig die Arbeitsmarktsituation von älteren Menschen zu verbessern.
„Wir brauchen mehr Gesundheitsprävention in den Betrieben und stressarme alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze, gegebenenfalls als öffentlich geförderte Beschäftigung“, sagte Birkwald dem Handelsblatt. „Erst dann werden chronisch Kranke eine reale Chance haben, wieder in den Arbeitsmarkt integriert zu werden.“
Aktueller denn je: Ausführliches Interview im „Versicherungsboten“ zu allen wichtigen Fragen rund um die gesetzliche und die private Rente
Bundestagsrede in der Orientierungsdebatte am 26. Januar 2022