Die Rente ab 63 ist ein voller Erfolg, zumindest was die Nachfrage angeht. Das Angebot, nach 45 Beitragsjahren in der Rentenversicherung vorzeitig ohne Abschläge in den Ruhestand zu gehen, wird von Arbeitnehmern gerne angenommen. So zeigen dem Handelsblatt vorliegende Zahlen der Rentenversicherung: Im vergangenen Jahr wurden rund 251.000 Anträge auf die Rente für besonders langjährig Versicherte ab dem 63. Lebensjahr gestellt.
Das sind nur etwas weniger als im Rekordjahr 2017, als knapp 254.000 Anträge eingingen. Seit Inkrafttreten der Neuregelung im Juli 2014 verzeichnete die Rentenversicherung fast 1,2 Millionen Anträge. Die Große Koalition hatte die Regelung in der vergangenen Legislaturperiode auf Drängen der SPD verabschiedet, um Beschäftigte zu belohnen, die bereits in jungen Jahren ihr Arbeitsleben begonnen haben. Die Wirtschaft kritisiert dagegen, dass dem Arbeitsmarkt dringend benötigte Facharbeiter entzogen werden.
„Es ist eine der Irrationalitäten der derzeitigen Politik: Wir müssen ausländische Fachkräfte anwerben um dem demografischen Wandel zu begegnen und gleichzeitig frühverrenten wir inländische Fachkräfte abschlagsfrei“, sagt Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), dem Handelsblatt.
Die Rente ab 63 entwickele sich zunehmend zur „Wachstumsbremse“.
Die Antragszahlen des vergangenen Jahres liegen nach Angaben der Rentenversicherung „im Rahmen der Erwartungen“. Auch die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Katja Mast sieht keine unerwartet hohe Inanspruchnahme. Die Sozialdemokraten hätten die Rente ab 63 damals durchgesetzt, „weil sich die Menschen das verdient haben“.
Die Linke hält die Rente ab 63 ebenfalls für eine gute Entscheidung. Der rentenpolitische Sprecher der Partei, Matthias W. Birkwald, sagt dem Handelsblatt, dass Menschen, die 45 und mehr Jahre in die Rente eingezahlt haben, oft nicht mehr länger arbeiten könnten und sich „ihren Ruhestand redlich verdient“ hätten. Die Beliebtheit der Regelung erkläre sich nicht zuletzt damit, dass andere Möglichkeiten wegfallen seien, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen. Bis 2029 steigt die Altersgrenze für die abschlagsfreie Frührente schrittweise auf 65 Jahre.
Die Statistiken der Rentenversicherung zeigen, dass nicht alle Interessenten auch tatsächlich frühzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden dürfen. Zwar werden Phasen der Arbeitslosigkeit angerechnet, ebenso wie Zeiten der Kindererziehung und der Pflege von Angehörigen.
Aber nicht jeder Antragsteller erfüllt am Ende die Voraussetzungen. Bis Ende 2017 wurden knapp 900.000 Anträge positiv beschieden, die neuen Zahlen mit dem Jahr 2018 liegen der Rentenversicherung erst im Sommer vor.
Dennoch: Die Nachfrage liegt über den 200.000 Fällen pro Jahr, von denen die Große Koalition in ihrem Gesetz ausgegangen war. Damit dürften auch die Zusatzausgaben für die Rentenkasse, die der Gesetzgeber einst für 2018 auf 1,9 Milliarden Euro schätzte und die in diesem Jahr eigentlich 1,8 Milliarden Euro betragen sollen, höher als erwartet ausfallen.
Genaue Angaben zu den tatsächlichen Kosten der Rente ab 63 können die Behörden nicht machen. Im Mittelpunkt der Kritik stehen ohnehin weniger die Ausgaben denn das Signal an die Beschäftigten.
Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bemängelte in einer Rentenstudie zu Deutschland, dass die Rente ab 63 „wenig Anreize“ für eine längere Lebensarbeitszeit biete. Angesichts des demografischen Wandels müsste die Politik vielmehr darauf hinwirken, Menschen möglichst lange in der Erwerbsarbeit zu halten.
Für den rentenpolitischen Sprecher der Grünen, Markus Kurth, ist die anhaltende Beliebtheit der Rente ab 63 nicht überraschend. „Es war klar, dass viele Beschäftigte diese Rentenart in Anspruch nehmen würden“, sagt er dem Handelsblatt.
Frühere Anfragen seiner Partei an die Bundesregierung hätten ergeben, dass zwei Drittel der Antragstellenden auch Abschläge in Kauf genommen hätten – also ohnehin in Rente gegangen wären. Aber immerhin ein Drittel hätte auch weiter gearbeitet.
Der FDP-Rentenexperte Johannes Vogel forderte, statt der „staatlich geförderten Frühverrentung“ das Renteneintrittsalter zu flexibilisieren. Dabei verweist er auf die skandinavischen Länder. „Dort gilt eine ganz einfache Regel: Wer später geht, bekommt mehr, wer früher geht, bekommt weniger Rente“, sagt Vogel.
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