Die Koalition und Ökonomen streiten über das Grundrenten-Konzept von Huberts Heil. Dabei sind die Auswirkungen auf Rentner gar nicht so üppig – wie eine Modellrechnung zeigt.
Langjährig Versicherte sollen im Alter zehn Prozent mehr als die Grundsicherung haben. So lautet das Verspechen, dass SPD und Union den Wählern im Koalitionsvertrag gegeben haben. Der Vorschlag von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil dazu liegt auf dem Tisch.
Die Reaktionen sind gespalten: Der Minister bekommt Zuspruch, muss sich aber auch viel Kritik anhören. Ein Vorwurf aus der Union: Heil gehe mit seinem Konzept weit über die Vorgabe des Koalitionsvertrags hinaus.
Doch Modellrechnungen über die Auswirkungen seiner Pläne auf Rentenversicherte mit niedrigem Einkommen belegen: So üppig, wie immer wieder behauptet, sind die Auswirkungen auf die Betroffenen gar nicht.
So sieht Heils Rechenbeispiel aus:
Der Arbeitsminister verweist zur Illustration auf das Beispiel einer Friseuse, die 40 Jahre lang immer nur den Mindestlohn verdient hat. Bei einem Mindestmonatslohn von 1296,70 Euro kommt sie heute auf eine Bruttorente von 512,48 Euro und wäre mithin auf Grundsicherung angewiesen.
Heils Plan sieht vor, die Rentenanwartschaften, die mit diesen und ähnlich niedrigen Einkünften in den ersten 35 Jahren erreicht werden können, zu verdoppeln. Maximal soll die Rente jedoch nicht höher sein, als der Rentenanspruch eines Arbeitnehmers, der immer 80 Prozent des Durchschnitts verdient hat.
Im Fall der Friseuse bringen die ersten 35 Versicherungsjahre 448,42 Euro. Ihr Rentenanspruch verdoppelt sich mithin für diese 35 Jahre auf 896,54 Euro. Da sie 40 Jahre eingezahlt hat, kommt sie insgesamt sogar auf brutto 960,90 Euro.
Darauf muss sie allerdings noch Pflege und Krankenversicherungsbeitrag in Höhe von rund 11 Prozent zahlen, so dass ihr netto 855,20 Euro bleiben. Aus der Grundsicherung ist sie damit heraus. Aber nur knapp. Denn ihre Heil-Rente liegt am Ende nur 59 Euro über der durchschnittlichen Grundsicherung.
So sieht es der Koalitionsvertrag vor:
Im Gegensatz dazu würde eine Eins-zu-eins-Umsetzung des Koalitionsvertrags dazu führen, dass Arbeitnehmer mit 35 Versicherungsjahren im Durchschnitt auf 796 Euro plus zehn Prozent also rund 870 Euro Rente kommen würden.
796 Euro ist nämlich die Summe, die das Grundsicherungsamt im Durchschnitt inklusive Miete auszahlt. Allerdings wäre die Höhe der Renten je nach Region sehr unterschiedlich. In Ballungszentren wären es wegen der hohen Mieten deutlich größere Beträge.
Somit hätte die Friseuse bei dem Vorschlag des Arbeitsministers im Vergleich sogar weniger Geld zur Verfügung. Allerdings – und dies ist in den Augen der SPD der größte Vorzug des Vorschlags von Heil ¬ ist ihr dieses Geld wenigstens sicher. Es findet nämlich keine Bedürftigkeitsprüfung statt. Erspartes und andere Einkünfte wie eine Riesterrente kann sie in voller Höhe behalten.
Nach geltendem Recht müssen Riesterrente und betriebliche Altersversorgung bis auf einen Freibetrag mit der Grundsicherung verrechnet werden. Auch diesen Freibetrag gibt es erst seit 2018. Bei niedrigeren Einkommen ist die Differenz zur Grundsicherung noch größer.
So kommt jemand, der 35 Jahre rund 640 Euro verdient hat, heute auf einen Rentenanspruch von rund 224 Euro. Das ergeben zumindest von der Linke in Auftrag gegebene Rechnungen, die die Rentenversicherung auf Anfrage des Handelsblatts als sehr plausibel eingeschätzt hat. Durch Heils neue Rentenformel wird dieser Rentenanspruch immerhin auf 448 Euro brutto verdoppelt. Netto sind es 399 Euro.
Der oder die Betreffende bleibt also auch in Zukunft auf Grundsicherung angewiesen. Ähnlich sieht es für jemanden aus, der 35 Jahre nur 970 Euro im Monat verdient hat. Er bleibt mit einer Nettorente von 598 Euro weiter ein Fall für das Grundsicherungsamt. Nur wer mehr als den heutigen Mindestlohn verdient hat, kommt nach 35 Versicherungsjahren nach Heils Rentenmodell damit zuverlässig aus der Grundsicherung heraus.
So erreicht ein Arbeitnehmer, der 45 Jahre immer nur die Hälfte des Durchschnittslohns verdient hat, aktuell eine Rente von 720 Euro, die unter Grundsicherungsniveau liegt. Nach Heils Reform sind es brutto über 1000 Euro.
Bei 60 Prozent des Durchschnittsverdienstes und 40 Versicherungsjahren steigt der Rentenanspruch von 768 auf 992 Euro brutto, bei 70 Prozent des Durchschnittsverdienstes und 40 Versicherungsjahren von 896 auf 1008 Euro Brutto. Eine Verdoppelung des heutigen Rentenanspruchs findet hier also nicht mehr statt.
Der Grund ist, dass die Höherwertung in Heils Modell auf 80 Prozent des Durchschnittsverdienstes begrenzt ist. Je näher ein Versicherter mit seinem eigenen Rentenanspruch an diese Grenze herankommt, um so weniger bringt ihm die Heil-Rente.
Freibetragsregelung hilft Arbeitern im Niedriglohnsektor
Trotzdem zeigen die Zahlen, dass mit Heils Rentenkonzept ein sehr großer Teil der Arbeitnehmer, die heute im Niedriglohnbereich arbeiten müssen, im Alter aus der Grundsicherung herausgeholt werden kann. Denen, die trotzdem in der Grundsicherung bleiben, hilft die geplante Freibetragsregelung.
Diese sieht vor, dass Kleinrentner in Zukunft 25 Prozent ihrer Rente, maximal 106 Euro neben der Grundsicherung beziehen dürfen. Also auch für den Modellrentner mit einem Lohn von 648 Euro bewirken Heils Pläne, dass ihm erstmals das Gefühl vermittelt wird, nicht vergeblich Zwangsbeiträge in die Rentenversicherung gezahlt zu haben. Heils Rentenkonzept ist damit auch ein Projekt gegen die heute noch weit verbreitete Altersarmut.
Betroffen davon sind vor allem Frauen in Westdeutschland, die wegen der Kindererziehung im Beruf kürzer getreten sind. Ihre Renten liegen oft nur wenig unter der Grundsicherungsschwelle. Sie gehen aber aus Scham nicht zum Grundsicherungsamt. Sie hätten nach Heils Konzept ab 2021 nahezu alle eine fixe Rente über Grundsicherungsniveau.
Grundsätzlich unterstützt die Linke gerade auch deswegen Heils Rentenpläne. „Viele Betroffene kämen ohne Bedürftigkeits- und Vermögensprüfung an ihre wohlverdiente Rente und müssen nicht zum Sozialamt“, lobt der Rentenexperte der Partei, Matthias W. Birkwald, gegenüber dem Handelsblatt.
Während die Wirtschaft Heils Rentenpläne für völlig überzogen hält, wünscht sich die Linke mehr Mindestrente. Heils Konzept führe nämlich leider dazu, „dass die Armutsgrenze der EU für Deutschland von aktuell 1096 Euro, für viele Rentner in weiter Ferne bleibt“, klagt Birkwald. Auch, dass die Änderungen erst 2021 eingeführt werden und nur für Menschen mit 35 Beitragsjahren gelten sollen, kritisiert der Linken-Politiker.
„Bei 35 Jahren zum gesetzlichen Mindestlohn komme man auf nicht mehr als 798,19 Euro netto und damit nur auf popelige zwei Euro mehr als der durchschnittliche Zahlbetrag der Grundsicherung im Alter für einen Single“, so Birkwald weiter. Deshalb hält die Linke daran fest, dass die „Grundrente“ durch eine echte Solidarische Mindestrente von 1050 Euro netto ergänzt werden muss, auf die dann jeder Rentner erst einmal mindestens Anspruch hätte.
Um die Kosten der Grundrente auf lange Sicht zu drücken, regt die Linke außerdem an, dass Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) seine eigene „Sonntagsforderung“ in die Tat umsetzt und den gesetzlichen Mindestlohn auf 12 Euro erhöht.
Der Finanzminister hat stattdessen fast zeitgleich mit Heils Rentenvorstoß wissen lassen, dass die Handlungsspielräume im Bundeshaushalt enger werden. Dies wurde allgemein als Signal verstanden, dass für den Finanzminister eine Finanzierung der Heil-Rente über Steuern nicht in Frage kommt.
Heil fehlte zunächst die Unterstützung von Finanzminister Scholz
Offensichtlich stimmten sich die beiden SPD-Minister mal wieder nicht ab. Scholz war Heil schon im vergangenen Jahr in den Rücken gefallen, als er in Interviews eine Stabilisierung des Rentenniveaus bis 2040 forderte, während Heil gerade damit beschäftigt war, eine Rentenreform durch den Bundestag zu bringen, die das erst einmal für die nächsten Jahre sicherstellt. Plötzlich sah es so aus, als hinke Heil mit seiner Umsetzung des Koalitionsvertrags in Sachen Rentenniveau der SPD-Agenda für die laufende Koalitionsarbeit hoffnungslos hinterher.
Immerhin leistete der Finanzminister dieses Mal schnelle Wiedergutmachung: Er signalisierte am Dienstagabend ausdrücklich Unterstützung für Heils Respekt-Rente. Zudem räumte er unabgestimmt mit dem Koalitionspartner CDU/CSU der Finanzierung des Projekts auch absolute Priorität bei der Haushaltsplanung ein.
In der Union hat das bereits zu offenem Unmut geführt. Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer signalisierte, dass die Union die mit der SPD vereinbarte Bestandsaufnahme zur Mitte der Legislatur offensiv nutzen werde.
Zustimmung zu Heils Modell kommt im übrigen nicht nur von der Linken. Auch der ehemalige Chef der Wirtschaftsweisen und heutige Präsident des Handelsblatt-Research-Instituts, Bert Rürup, hält es für den richtigen Lösungsansatz.
Er wehrt sich im Gespräch mit dem Handelsblatt vor allem gegen Kritiker, die Heil vorwerfen, er würde mit der Verdoppelung von Niedrigrenten das Prinzip der Äquivalenz von Beitrag und Leistung in der Rentenversicherung verraten. Nach seiner Ansicht ist die Aufwertung von Niedrigrenten die einzig adäquate Antwort auf den Niedriglohnsektor, der seit den Hartz-Reformen – politisch gewollt – entstanden sei.
Eine Schwäche hat Heils Konzept nach Ansicht von Rürup jedoch. Er fordert, dass reine Zeiten der Teilzeitbeschäftigung nicht aufgewertet werden dürfen. Die SPD lehnt dies ab, weil sie die Bürokratie vermeiden will, die mit einer Ermittlung des Beschäftigtenstatus über das gesamte Erwerbsleben einhergehen würde.
Keine Antwort gibt Heils Reformvorschlag allerdings den Arbeitnehmern in den neuen Bundesländern, die nach der Wende unverschuldet lange Zeiten der Arbeitslosigkeit und des Hartz-IV-Bezugs in Kauf nehmen mussten.
Bislang ist lediglich vorgesehen, dass bei den 35 Versicherungsjahren für die Heil-Rente Zeiten der Kindererziehung und der Pflege mitgerechnet werden. Zeiten der Arbeitslosigkeit sind dagegen bisher außen vor. Dabei wurden für diese Zeiten seit 2000 immer geringere Beiträge von der Bundesagentur für Arbeit oder dem Bund in die Rentenkasse gezahlt.
So zahlte der Bund für Bezieher von Arbeitslosenhilfe bis 2000 Beiträge von 80 Prozent des letzten Einkommens in die Rentenkasse. Seit es Hartz IV gibt, zahlte der Bund zunächst nur einen Minibeitrag von der Höhe der Harzt IV-Leistung. Seit 2011 ist der Rentenbeitrag für Hartz-IV-Empfänger auf Null reduziert. Große Löcher in den Rentenbiografien vieler Ostdeutscher sind die Folge.
Trotzdem ist Heils Reform gerade für die Ostdeutschen in der Summe ein Gewinn. Denn zwei Drittel der ostdeutschen Männer haben im Alter zwischen 55 und 59 Jahren bereits mehr als 35 Beitragsjahre in ihrem Versicherungskonto stehen. Sie würden mithin bei Niedrigeinkommen von der Heil-Rente profitieren. Bei den westdeutschen Männern ist es nur die Hälfte.
Noch ausgeprägter sind die Unterschiede bei den Frauen. In Westdeutschland ist der Anteil an Frauen mit 35 Beitragsjahren und mehr mit 33 Prozent nur etwa halb so groß wie in Ostdeutschland (64 Prozent). Heils Reform ist damit auch eine Antwort auf die wachsende Politikverdrossenheit in den neuen Ländern.
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