Der rentenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Matthias W. Birkwald, sagte »nd«: »Wenn es die Koalition ernst meint und im kommenden Jahr Selbstständigen eine armutsfeste Alterssicherung ermöglichen will, dann führt kein Weg an der gesetzlichen Rente vorbei.« Nur sie biete einen umfassenden Schutz vor Krankheit und Erwerbsminderung.
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Bei der Grundrente, der ersten großen rentenpolitischen Baustelle der Großen Koalition, steht nach viel Streit mittlerweile zumindest der Grundriss fest. Das Jahr 2020 hält aber schon das nächste Großprojekt mit Streitgarantie in der GroKo bereit: die Rentenvorsorgepflicht für Selbstständige.
Um im Bild zu bleiben: Noch ist man sich bei dem Thema nicht einmal sicher, wie und ob die Baugrube überhaupt ausgehoben werden soll. Den Termin für einen ersten Entwurf hat Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bereits mehrfach gerissen. Eigentlich war ein Entwurf für die erste Jahreshälfte 2019 angekündigt gewesen, dann sollte es einen Termin Ende des Jahres geben. Doch noch immer wartet man darauf.
Worum es geht? Heil will eine Altersvorsorgepflicht für Selbstständige. Denn derzeit sind nur einige Selbstständigengruppen, wie Erzieher*innen, Hebammen oder Psychotherapeut*innen rentenversicherungspflichtig. Der Rest kann sich absichern, muss aber nicht. Das Arbeitsministerium geht bei dem Gesetzesvorhaben davon aus, dass drei der vier Millionen Selbstständigen in Deutschland aktuell nicht für das Alter vorgesorgt haben.
Schon jetzt liegt die Quote der Solo-Selbstständigen, die im Alter wegen unzureichender Rente die Grundsicherung im Alter beziehen, deutlich über der von abhängig Beschäftigten, wie die Antwort der Bundesregierung auf eine große Anfrage der Linksfraktion im Bundestag von 2016 zeigte. 2015 machten demnach Personen, die zuletzt im Berufsleben selbstständig waren 17,4 Prozent aller Grundsicherungsbeziehenden im Alter aus. Ihr Anteil bei den Rentner*innen insgesamt lag dagegen nur bei 10,5 Prozent.
Der Rentenforscher Johannes Geyer vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) betonte gegenüber »nd«: »Dass man Selbstständige zur Altersvorsorge verpflichtet, ist heute noch einmal bedeutender als früher, weil es zunehmend schlecht abgesicherte Solo-Selbstständige gibt. Wir erwarten, dass ihre Zahl noch weiter steigen wird.«
Auch die OECD warnte erst jüngst in ihrem Rentenreport: »Deutschland ist eines der wenigen OECD-Länder, das keine obligatorische Rentenversicherung für alle Selbstständigen hat.« Und weiter: Für die »wachsende Zahl an Arbeitnehmern, die neue Formen der Arbeit z. B. über Plattformen ausüben, sind aufgrund mangelnder Absicherung und niedriger Beiträge die Rentenaussichten düster«. Wer ausschließlich oder einen überwiegenden Teil seines oder ihres Erwerbslebens freiberuflich gearbeitet habe, bekäme gerade einmal rund die Hälfte der Rente einer abhängig Beschäftigten mit gleicher Karriere, so die OECD.
Doch das Unterfangen ist komplexer, als es zunächst scheint. Denn hinter dem Vorhaben verbirgt sich die Gretchenfrage, ob die gesetzliche Rentenversicherung durch einen weitgehenden Einbezug der Selbstständigen gestärkt wird oder ob Deutschland weiter den Weg der drei Säulen gehen will. Letzteres bedeutet lax gesprochen: eine Schwächung der gesetzlichen Rente, die für viele die einzige oder zumindest die wichtigste Absicherung im Alter ist.
Dazu kommen weitere inhaltliche Fragen: Denn auch wenn es derzeit keine generelle Rentenpflicht für Selbstständige gibt, sorgen einige natürlich vor - aber eben privat, beispielsweise über eine Immobilie oder andere Geldanlagen. Eventuell haben diese Personen laufende Verträge, die neuen Altersvorsorgekriterien nicht genügen. Braucht es für sie Ausnahmen? Einige Lobbygruppen wie der Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland fordern gar, dass die Pflicht nur für zukünftige Selbstständige gelten soll.
Zwar sind sich die Parteien, sogar die FDP und Union, einig, dass Selbstständige im Alter besser abgesichert sein müssen. Doch während Liberale und Konservative weiter auf ein möglichst flexibles Dreisäulenmodell setzen, wollen LINKE, Grüne und die SPD am liebsten so viele Selbstständige wie möglich in die gesetzliche Rente miteinbeziehen. Und die Konfliktlinien, die auch zwischen den Koalitionspartnern verlaufen, sind starr.
Im Koalitionsvertrag findet sich derzeit ein Kompromiss: »Grundsätzlich sollen Selbstständige zwischen der gesetzlichen Rentenversicherung und - als Opt-out-Lösung - anderen geeigneten insolvenzsicheren Vorsorgearten wählen können«, heißt es dort. Es soll also keine grundsätzliche Pflicht geben, in die gesetzliche Rente zu gehen, sondern nur eine für das Alter vorzusorgen. Auch erste Kriterien für die privaten Vorsorgeformen werden im Koalitionsvertrag formuliert. Sie sollen »insolvenz- und pfändungssicher« sein und »in der Regel« zu einer Rente »oberhalb des Grundsicherungsniveaus führen müssen«. Genauere Details sind bis zu einem ersten Entwurf noch nicht bekannt. Das Ziel lautet in jedem Fall, dass Altersarmut und Grundsicherungsbezug, vermieden werden sollen.
Der rentenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Matthias W. Birkwald, sagte »nd«: »Wenn es die Koalition ernst meint und im kommenden Jahr Selbstständigen eine armutsfeste Alterssicherung ermöglichen will, dann führt kein Weg an der gesetzlichen Rente vorbei.« Nur sie biete einen umfassenden Schutz vor Krankheit und Erwerbsminderung.
Der Rentenforscher Geyer vom DIW pflichtet ihm bei: »Wenn es die Option zur privaten Versicherung gibt, wird es perspektivisch so sein, dass gut verdienende Selbstständige sich eher privat absichern, während Selbstständige mit höherer Einkommensunsicherheit eher in die gesetzliche Versicherung gehen würden.« Das würde dazu führen, dass all die Beitragszahlenden, die regulär gesetzlich versichert sind, diese Ungleichheit mit ihren Beiträgen kompensieren müssen. Kurzum: Es würde zu einer weiteren Vertiefung des Zwei-Klassensystems in der Rente kommen.
Das Arbeitsministerium (BMAS) will sich auf Anfrage nicht auf einen neuen Termin festlegen. Es heißt von dort nur schlicht: »Die Einbeziehung der Selbstständigen steht weiterhin auf der politischen Agenda des BMAS.« Derzeit würden die Möglichkeiten im Rahmen eines Dialogprozesses mit verschiedensten Interessenverbänden der Selbstständigen erörtert und an der Umsetzung gearbeitet. Aus informierten Kreisen heißt es aber, dass ein Entwurf erst kommen soll, wenn die Grundrente durch das Parlament ist. Das könnte sich durchaus noch durch das Frühjahr oder gar bis zum Sommer ziehen, auch weil die Union das Ganze noch einmal droht aufzumachen.
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