DIE ZEIT: Frau Breymaier, Kristina Marlen, gibt es ein Recht auf Prostitution?
Kristina Marlen: Ja. Jeder hat das Recht auf freie Berufswahl.
Leni Breymaier: Nein. Ganz sicher gibt es kein Recht auf Prostitution.
ZEIT: Auch nicht, wenn jemand sich frei dafür entscheidet?
Breymaier: Erst heute Nachmittag erzählte mir ein Sozialarbeiter der Szene aus einer süddeutschen Großstadt, in seinem Umfeld würden mindestens 95 Prozent der Frauen zur Prostitution gezwungen. Natürlich gibt es in der Öffentlichkeit auch Prostituierte — eloquent, selbstbewusst, gut aussehend —, die sagen: Ich mache den Job gerne und freiwillig. Aber diese wenigen rechtfertigen nicht das Leid der vielen anderen, der Zwangs- und Armutsprostituierten, der Loverboy- und Menschenhandels-Opfer. Deshalb fordere ich für Deutschland ein Verbot des Sexkaufs, wie es beispielsweise in Schweden praktiziert wird.
Marlen: Woher kommen diese 95 Prozent? Mit solchen Fantasiezahlen wird versucht, uns Sexarbeiterinnen gegeneinander auszuspielen und in Privilegierte wie mich und prekär arbeitende Kolleginnen auf der anderen Seite zu spalten. Ein Sexkauf-Verbot, wie Sie es fordern, würde genau die marginalisierten Sexarbeiterinnen, die Sie schützen wollen, weiter in die Illegalität drängen. Dort wären sie noch ungeschützter als jetzt. Es ist so verlogen!
Breymaier: Ich schütze keine "Sexarbeiterinnen", ich schütze Frauen in der Prostitution. Das Wort "Sexarbeiterinnen" benutze ich gar nicht. Was in der Prostitution passiert, hat nichts mit Sexualität zu tun. Ganz überwiegend ist es Gewalt, Demütigung, Menschenrechtsverletzung.
Marlen: Sie geben vor, Menschen helfen zu wollen — aber alle, die sich mit Menschenhandel befassen, ob Amnesty International, Human Rights Watch, die Deutsche Aidshilfe, das Deutsche Institut für Menschenrechte, haben in Studien festgestellt: Das Sexkaufverbot hilft nicht gegen Menschenhandel. Und es hat nirgends zum Rückgang von Prostitution geführt.
Breymaier: Von Prostitution lebt ein ganzes Milieu: Zuhälter, Bordellbetreiber und bestimmte Immobilienbesitzer. Alle, nur die Frauen nicht. Die Schweden sagen: Dieses schwerkriminelle Milieu ist nach der Einführung des Sexkaufverbots abgezogen. Nach Deutschland.
Marlen: Ein Sexkaufverbot verringert nur die sichtbare Prostitution und verdrängt sie ins Halbdunkle, ins Internet, wo man das Geschehen noch weniger kontrollieren kann. Sexarbeitende werden anfälliger für Gewalt, Erpressung und Bedrohung — und können das nicht mehr anzeigen. Auch Kunden übrigens nicht. Sie tun immer so, als sei der Kunde nur der Aggressor. Dabei ist er oft derjenige, der anzeigt, wenn er das Gefühl hat, hier stimmt etwas nicht.
Breymaier: Wie viele Anzeigen kennen Sie? Und zu Ihrem Punkt, dass die Prostitution ins Dunkle verdrängt würde: Wenn der Freier die Prostituierte dort findet, dann findet die Polizei sie dort auch.
Marlen: Wissen Sie eigentlich, Frau Breymaier, wie wichtig es ist, dass Frauen wie ich sich darüber austauschen, welche Kunden man lieber nicht reinlassen sollte? Ein Sexkaufverbot würde diese Vernetzung zum Risiko machen. Sie entziehen jeder Person, die Ihrer Theorie nicht folgt, Ihre Unterstützung.
Breymaier: Ich entziehe Ihnen nicht meine Unterstützung. Sie haben meine Unterstützung noch nie gehabt.
Marlen: Ihre Ignoranz negiert die Kämpfe, die wir seit den Siebzigerjahren weltweit ausfechten. Selbst auf Kontinenten, in denen Sexarbeit unter viel schlechteren Bedingungen stattfindet als hier, fordert unsere Bewegung eine Entkriminalisierung von Sexarbeit. Nur über die Stärkung der Rechte insbesondere marginalisierter Frauen können Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessert werden.
Breymaier: Ich glaube, wir haben hier ein Rassismusproblem.
Marlen: Ich soll ein Rassismusproblem haben?
Breymaier: Nicht Sie. Sondern die Gesellschaft. Der überwiegende Teil der Frauen, die in Deutschland anschaffen, kommen aus dem Ausland: aus Nigeria, aus Südosteuropa, viele sind Roma. Sie werden hergelockt oder von ihren Familien geschickt — und dann bleibt ihnen nichts von dem Geld. Sie kennen ja die Preise: Einmal eine Frau benutzen, mit ihr machen, was man will ...
Marlen: ... eine Frau benutzen? Was für eine respektlose Sprache ...
Breymaier: ... in Stuttgart kostet das 30 Euro. Die Frauen zahlen in Deutschland für ein Zimmer pro Tag 120 bis 160 Euro. Sie müssen also fünf bis sechs Freier bedienen, dann haben sie gerade mal ihr Zimmer bezahlt — aber noch nichts gegessen, kein Geld an ihre Familie geschickt und nicht die Schulden für ihre angeblichen Ausreisekosten abbezahlt. Die 'Frau verdient keinen Cent. Was daran ist faire Arbeit?
Marlen: So weit bin ich bei Ihnen: Es gibt horrende Arbeitsbedingungen in der Branche. Aber: Die gibt es auch anderswo. Warum regt sich zum Beispiel niemand über den Skandal um all die Menschen aus Osteuropa auf, die in der Fleischindustrie ausgebeutet werden? Wir müssen doch an die Wurzel des Problems ran: an die Tatsache, dass Ungleichheit und soziale Missstände in Europa so groß sind, dass Menschen sich in Ausbeutungsverhältnisse begeben müssen.
Breymaier: Über die Zustände in der Fleischindustrie rege ich mich auch auf. Aber der Unterschied zwischen einem Schlachter und einer Prostituierten ist, dass die Frauen körperlich und seelisch zerstört werden. Wenn sie es schaffen auszusteigen, brauchen sie Jahrzehnte, um sich in schwierigsten Traumatherapien ihre persönlichen Grenzen und ihre Würde wieder zu erarbeiten.
Marlen: Sexarbeit ist nicht nur Ausbeutung. Es gibt auch Menschen wie mich, die das als Berufung empfinden. Ich liebe die Intimität, die Nähe und Wärme. Ich gebe Menschen die Möglichkeit, so zu sein, wie sie sonst nirgends sein können, auch nicht in ihren Beziehungen ...
Breymaier: ... das sind doch Mythen und Legenden ...
Marlen: ... und es gibt ein breites Mittelfeld von Sexarbeitenden, die zum Beispiel aus wirtschaftlichen Gründen sagen: So kann ich als Alleinerziehende am besten mein Kind durchbringen. Das findet in der Mitte der Gesellschaft statt.
Breymaier: Ach, kommen Sie. Wenn im Großbordell Paradise in Stuttgart die Frauen 16 Stunden am Stück arbeiten und bis vier Uhr morgens da zu sein haben, hat das nichts mit Nähe und Wärme zu tun. Und dann ist dabei doch keine Alleinerziehende, die abends um sechs ihr Kind ins Bett gebracht hat!
ZEIT: Frau Breymaier, es war die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder, die 2002 mit der Öffnung des Prostitutionsgesetzes dazu beigetragen hat, dass Deutschland heute eine so liberale Gesetzgebung hat. Warum kommt ausgerechnet aus der SPD jetzt die Forderung nach einem Sexkaufverbot?
Breymaier: Die Liberalisierung von 2002 war ja gut gemeint — übrigens damals ein Wahlkampfversprechen unseres grünen Koalitionspartners: Die Frauen sollten die Chance haben, sich sozial-, renten- und krankenversichern zu können. Sie sollten ihr Entgelt einklagen können und entstigmatisiert werden. Das Ganze hat aber dazu geführt, dass wir heute das Bordell Europas sind. Trotzdem ist der Blick der SPD mehrheitlich ein prostitutionsfreundlicher wie Ihrer geblieben, Frau Marlen. Ich vertrete in meiner Partei zurzeit eine Minderheitsmeinung.
Marlen: Zum Glück. Wir haben heute schon Strafgesetze gegen Vergewaltigung, gegen Nötigung, gegen Freiheitsberaubung und gegen Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung. Es reicht, wenn die durchgesetzt werden. Ich wünschte, Sie würden sich mehr dafür interessieren, was es bringt, wenn man mit Sexualität arbeitet und sie nicht in die heimischen Betten verbannt. Wir erleben gerade eine sexualrepressive Welle, die alles stigmatisiert, was sich nicht im partnerschaftlichen, am besten von der Ehe gedeckelten, monogamen heterosexuellen Kontext bewegt. Sogar Tantramassagen fallen unter "sexuelle Dienstleistungen". Jegliche Formen der Sexualassistenz für Kranke und Behinderte. Das ist ein massiver Einschnitt in unsere Kultur!
ZEIT: Sie nennen Ihre Arbeit "feministisch".
Marlen: Natürlich! Ich bin eine der sexpositiven Feministinnen, die wissen, dass jede Form von Tabu am Ende auf die Kontrolle weiblicher Sexualität abzielt. Das Stigma der Hure und der Schlampe würde durch ein Sexkaufverbot noch verschärft. Alle Frauen hätten darunter zu leiden. In Ländern mit Sexkaufverbot wie in Schweden macht man sich schon durch das Mitführen von Kondomen verdächtig. Wir fallen in eine Ära von Denunziation und Verdächtigung, in der jede Frau potenziell eine Hure sein kann. Im Sexkaufverbot schwingt ja auch ein Volksauftrag mit: Alle sollen Prostitution verachten.
ZEIT: Frau Marlen, haben Sie mal eine Zwangsprostituierte getroffen?
Marlen: Ich kenne viele Kolleginnen aus Osteuropa, die eine Migrationsentscheidung aus wirtschaftlichen Gründen getroffen haben. Wenn sie in ihrem Ausbildungsberuf im Heimatland arbeiten, so erklären sie mir, dann verdienen sie zehnmal weniger, als wenn sie sich hier prostituieren. Das ist eine nachvollziehbare Entscheidung. Natürlich gibt es Opfer von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung. Und es gibt Armutsprostitution. Aber es gibt eben auch viele Frauen, die sagen: Bevor ich als unterbezahlte Paketzustellerin Katzenstreu in den fünften Stock schleppe, gehe ich lieber zweimal die Woche in den Puff. All' diesen Frauen wollen Sie die Existenzgrundlage entziehen.
Breymaier: Ganze Abi-Klassen gehen zum Feiern in den Puff, benutzen dort für 30 Euro Frauen und finden das ganz normal. Ich will, dass diese Gesellschaft dazu eine Haltung hat. Hier in Berlin stehen 13-jährige rumänische Mädchen auf dem Straßenstrich.
Marlen: Ja, das ist schlimm. Aber was bringt es der 13-Jährigen, wenn sie nicht mehr sichtbar an der Straße stehen darf — sondern irgendwo versteckt wird?
Breymaier: Es hilft, dass der Freier weiß, dass er etwas Verbotenes tut.
Marlen: Meine Kunden — 40 Prozent meiner Klientel sind übrigens weiblich — tun nichts Verbotenes.
Breymaier: Ich finde es nicht richtig, dass ein Geschlecht das andere kaufen kann. Wenn mein Kollege mittags losgeht und um die Ecke mit einer Frau machen kann, was er will: Mit was für einem Frauenbild kommt er hinterher zurück ins Büro?
Marlen: Das ist so verächtlich, was Sie sagen: eine Frau kaufen.
Breymaier: Mir hat erst letzte Woche ein Sozialarbeiter in Berlin von einer Frau erzählt, die stand bis wenige Stunden vor der Niederkunft auf dem Straßenstrich. Sie hat um 8.55 Uhr entbunden — und um 13 Uhr am gleichen Tag ist sie schon wieder anschaffen gegangen. Solche Zustände will ich nicht.
Marlen: Ich auch nicht. Deshalb fordern wir Rechte statt Verbote.
Moderation: Mariam Lau und Charlotte Parnack
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