Außerhalb der Versicherungswirtschaft dürften sich im Jahr 2021 kaum noch Stimmen finden, die der vor etwa 20 Jahren eingeführten „Riester-Rente“ noch etwas Gutes abgewinnen können. Sie ist teuer, renditeschwach und intransparent. Die seit der Jahrtausendwende mutwillig in die gesetzliche Rentenversicherung gerissenen Lücken kann sie nicht mal in den geschönten Modellrechnungen im Alterssicherungsbericht der Bundesregierung schließen. Was DIE LINKE schon bei deren Einführung vorausgesagt hat, ist heute breiter gesellschaftlicher Konsens.
Die Erzählung von der Überlegenheit kapitalgedeckter Altersvorsorge verglichen mit dem Umlagesystem der gesetzlichen Rentenversicherung hat sich als radikal falsch entpuppt. Profitiert von der Schwächung der umlagefinanzierten Rente haben nur die Versicherungswirtschaft, die sich mit unerhört hohen Vermittlungs- und Vertriebskosten von privaten Altersvorsorgeprodukten die Taschen gefüllt hat, sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die sich über den niedrigsten Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung seit 1993 freuen und die Kosten der Alterssicherung bequem auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abladen konnten. Die Zahl der Menschen, die auf die sogenannte „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ („Rentner-Hartz-IV“) angewiesen sind, hat sich hingegen seit 2003 von 439.000 auf knapp 1,1 Millionen mehr als verdoppelt. Den hart erarbeiteten Lebensstandard kann die Rente nur noch in Ausnahmefällen sichern.
Doch wessen Idee war die Schwächung der gesetzlichen Rentenversicherung und die damit einhergehende Privatisierung der Alterssicherung eigentlich?
Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, einen Blick auf die oben genannten Profiteurinnen und Profiteure der Rentenkürzungspolitik der vergangenen 20 Jahre zu werfen. Da der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung paritätisch von Arbeitgeber und Arbeitnehmer geteilt wird, die Kosten für private Altersvorsorge aber von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, abgesehen von einer möglichen staatlichen Förderung, fast ausschließlich alleine getragen werden, freuen sich erstens die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber über eine schwache Rente, denn um geringe Rentenleistungen zu finanzieren ist selbstverständlich ein geringerer Beitragssatz nötig als für eine auskömmliche Rente. Zweitens hat die Versicherungswirtschaft ein direktes Interesse an einer möglichst schwachen gesetzlichen Rentenversicherung. Denn umso besser der Lebensstandard von der gesetzlichen Rente abgesichert wird, umso weniger Anreize bestehen für die Menschen, private Versicherungsprodukte wie z. B. Renten- oder Lebensversicherungen zu kaufen – und das gilt natürlich auch umgekehrt.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. die in der Debatte häufig zitierte „junge Generation“ profitieren hingegen entgegen den häufig von marktradikaler Seite vorgebrachten Behauptungen überhaupt nicht von einem möglichst niedrigen Beitragssatz der gesetzlichen Rentenversicherung – ganz im Gegenteil! Denn: Für das in der Erwerbsphase des Lebens zweifelsohne etwas höhere Nettoentgelt kommt die Quittung später doppelt und dreifach in Form einer zu geringen Rentenleistung. Um den Lebensstandard im Alter zu sichern, sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer also darauf angewiesen, einen Teil ihres Einkommens (im Rahmen des Riester-Modells vier Prozent) für private Altersvorsorge aufzuwenden, bei der ihre Chefs fein raus sind. Von einem Beitragssatz von 9,3 Prozent für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kann also faktisch keine Rede sein.
Das zeigt auch: Der Streit um die Alterssicherung ist kein Generationenkonflikt, sondern ganz klar ein Verteilungskonflikt!
Es ist folglich wenig überraschend, dass der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in den Jahren vor der sogenannten „Riester-Reform“ unter dem Vorwand des demografischen Wandels lautstark die Privatisierung der Alterssicherung gefordert hat. Einer ihrer bevorzugt finanzierten Gutachter war hierbei der Volkswirt Prof. Dr. Axel Börsch-Supan, der in verschiedenen Studien massiv für die Schwächung der Rente und die Stärkung kapitalbasierter Vorsorgeprodukte warb.
Prof. Börsch-Supan ist seit jeher eng mit der Versicherungs- und Finanzwirtschaft verbunden. Er leitet das „Munich Center for the Economics of Aging“ (MEA), ein wirtschaftsnahes Forschungsinstitut. Dessen Vorgänger, das „Mannheim Research Institute for the Economics of Aging“, wurde vom GDV initiiert und mitfinanziert. Zur Illustration: Gleich im ersten Absatz der Festschrift zum zehnjährigen Bestehen des MEA bedank Börsch-Supan sich brav bei dem GDV für sein weitsichtiges Sponsoring. Später in der Broschüre wird es noch expliziter: „Auf der privaten Seite dieser Partnerschaft hat uns der GDV großzügig unterstützt, und zwar sowohl mit einem Stiftungslehrstuhl, wodurch der Direktor des MEA von der Lehre befreit werden konnte, als auch der Übernahme eines Teils der Grundfinanzierung des Institutes“.[1]
Ob ein Professor, der sich von der Versicherungswirtschaft alimentieren lässt (von verschiedenen Nebentätigkeiten ganz zu schweigen), wirklich so unabhängig ist, wie er es gerne darstellt, darf getrost bezweifelt werden. Es ist davon auszugehen, dass der GDV und ähnliche Verbände Forschungsinstitute wie das MEA nicht aus Spaß an der Freude finanzieren, sondern von ihnen Ergebnisse erwarten, die ihren Mitgliedern Argumente zum Verkauf ihrer Produkte liefern – und zu entsprechendem Handeln auffordern.
Im Jahr 2002 wurde Prof. Axel Börsch-Supan Mitglied der sogenannten „Rürup-Kommission“. Dort saß er (abgesehen von ganz offiziellen Lobbyistinnen und Lobbyisten, die überwiegend von Versicherungsunternehmen und der Großindustrie entsandt wurden) neben anderen sogenannten „unabhängigen Wissenschaftlern“ wie Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen oder dem Namensgeber und Vorsitzenden Prof. Dr. Bert Rürup.
Bernd Raffelhüschen fällt seit jeher durch eine Vielzahl von Nebentätigkeiten in der Versicherungswirtschaft auf und dürfte vor allem Leserinnen und Lesern der Boulevardpresse bekannt sein, der er regelmäßig Schlagezeilen in Form von noch nie eingetretenen Prognosen zum Ende der gesetzlichen Rentenversicherung liefert. Der rentenpolitisch hochkompetente Prof. Bert Rürup setzte sich offenbar dennoch so gut für die Versicherungswirtschaft ein, dass der Finanz- und Versicherungsunternehmer Carsten Maschmeyer später sogar eine eigene Firma mit ihm gründete. Entsprechend war es wenig überraschend, als die Kommission sich 2003 in ihrem Abschlussbericht besonders lautstark für die Schwächung der gesetzlichen Rentenversicherung sowie die Anhebung der Regelaltersgrenze aussprach – die Einflussnahme des organisierten Kapitals auf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist also wahrlich kein Einzelphänomen.
Derselbe Prof. Börsch-Supan, der vor 20 Jahren „wissenschaftlich unabhängige“ Argumente für das Riester-Desaster lieferte, hatte jetzt also die Federführung bei der Erstellung des kürzlich veröffentlichten Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), in dem mit Verweis auf die angeblich nicht mehr gegebene Finanzierbarkeit der gesetzlichen Rentenversicherung unter anderem eine Erhöhung der Regelaltersgrenze über die „Rente erst ab 67“ hinaus gefordert wurde (in der öffentlichen Debatte wurde diese Forderung als „Rente ab 68“ tituliert).
Dass viele Menschen, vor allem mit schlechter bezahlten, körperlich anstrengenden Berufen es schon heute nicht bis zur aktuell geltenden Regalaltersgrenze von knapp 66 Jahren durchhalten, müsste einem Wissenschaftlicher, der sich hauptsächlich mit der Alterung der Bevölkerung beschäftigt, eigentlich bekannt sein. Eine höhere Regelaltersgrenze bedeutet für diese Menschen nichts Anderes als noch höhere Abschläge auf ihre gesetzliche Rente und somit implizit die Verpflichtung, (verstärkt) privat für das Alter vorzusorgen. Der GDV hätte sicherlich nichts dagegen.
An der „Kommission Verlässlicher Generationenvertrag“ („Rentenkommission“), in der er sich mit seiner Forderung nach einem immer höheren Renteneintrittsalter glücklicherweise dank des Widerstandes des DGB und der SPD nicht durchsetzen konnte, kritisierte Prof. Börsch-Supan im Nachhinein: „Eine Kommission, in der eine satte Zweidrittelmehrheit aus Berufspolitikern und Verbandsvertretern besteht, kann keine großen Sprünge machen, da die meisten Mitglieder ihren Partei- und Verbandsinteressen verpflichtet sind“.[2] Ob er sich dabei selbst zu den „Verbandsvertretern“ mitgezählt hat, ist zu bezweifeln. Es wäre aber immerhin ehrlich gewesen.
Und wir kritisieren im Nachhinein erneut, dass die demokratischen Oppositionsparteien aus der Rentenkommission ausgeschlossen worden waren. Ohne DIE LINKE fehlt in solchen Kommissionen die Perspektive der Beschäftigten und der Rentnerinnen und Rentner. Um sie sollte es aber in der Rentenpolitik in allererster Linie gehen.
[1]max-planck-institut-mea-brochure-10-jahre.pdf (mpg.de)
[2]Rentenkommission der Bundesregierung - Drückeberger am Werke | Cicero Online
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Bundestagsrede in der Orientierungsdebatte am 26. Januar 2022