Liebe Leserin,
lieber Leser,
Sie haben, Ihr habt das Ergebnis der Bundestagswahl vom 26. September sicherlich schon zur Kenntnis genommen. Am wirklich niederschmetternden Ergebnis der LINKEN ist nichts zu beschönigen, weder im Bund, noch in Köln. Bundesweit hat DIE LINKE 2.027.277 Zweitstimmen oder 4,3 Prozentpunkte, in Köln 30.301 Zweitstimmen bzw. 5,64 Prozentpunkte verloren. In meinem Wahlkreis erzielte ich für DIE LINKE 8.771 oder 4,30 Prozent der Erststimmen sowie 10.399 oder 5,09 Prozent der Zweitstimmen. In 2017 waren es noch 15.804 Erst- und 21.100 Zweitstimmen, also 8 Prozent und 10,7 Prozent. Allerdings habe ich in den vergangenen acht Bundestagswahl kämpfen, davon sieben als Kandidat, in Köln immer nur um Zweitstimmen gekämpft.
Obwohl ich zu den 39 Abgeordneten gehöre, die wieder oder neu für DIE LINKE in den Bundestag einziehen werden, kann ich darüber nicht uneingeschränkt Freude empfinden. Obwohl DIE LINKE im 20. Deutschen Bundestag wieder Fraktionsstatus erreichen und damit wichtige Antrags- und Auskunftsrechte nicht verlieren wird, weil sie darin 5,3 Prozent der Abgeordneten dort stellt, mag sich bei mir nur eingeschränkt Erleichterung einstellen.
Zunächst danke ich allen Bürgerinnen und Bürgern, die auch bei dieser Bundestagswahl DIE LINKE gewählt haben. Danke! Ich bin der festen Überzeugung, dass das enttäuschende Wahlergebnis meiner Partei und auch meines Kreisverbandes auf eines nicht zurückgeht: Auf mangelndes Engagement im Wahlkampf. Deswegen danke ich den Genossinnen und Genossen hier in Köln, in NRW und im Bund, die sich vielfach vorbildlich engagiert haben. Danke! Ich danke auch meinen Kölner Mit-Kandidat:innen (in Reihenfolge ihrer Wahlkreise) Madeleine Eisfeld, Michael Weisenstein und Beate Hane-Knoll, von Herzen. Ebenfalls danke ich unserer Spitzenkandidatin Janine Wissler, die in diesem Wahlkampf bis zum Anschlag arbeitete, viele auch unfaire Angriffe einstecken musste und in Köln einen tollen Auftritt hingelegt hat und ich danke unserem Spitzenkandidaten Dietmar Bartsch für seinen unermüdlichen Einsatz im Wahlkampf.
Zum Dank kommt leider das Bedauern:
Die Arbeit in der deutlich geschrumpften Bundestagsfraktion der LINKEN wird durch den Verlust vieler geschätzter Kolleginnen und Kollegen unter den Abgeordneten sowie unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht einfacher. Persönlich werde ich in der Fraktion neben viel anderen ganz besonders den Bielefelder Friedrich Straetmanns vermissen, den ich nicht nur als kompetenten rechtspolitischen Sprecher und Justitiar, sondern auch als wertvollen Freund kennen- und schätzen gelernt habe. Seine Stimme wird der Fraktion und der Völkerverständigung zwischen Rheinländern und Westfalen mit Sicherheit fehlen.
Ich bin und bleibe der Überzeugung, dass in Deutschland nach wie vor eine Partei gebraucht wird, die für soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit und mehr Demokratie streitet, für Abrüstung und Entspannung in der internationalen Politik kämpft sowie sich für einen ökologischen Umbau einsetzt, der mit der Mehrheit der Menschen und nicht gegen sie geplant und umgesetzt wird. Es muss meiner Partei zu denken geben, dass ihr von weniger als fünf Prozent der Teilnehmenden an einer Bundestagswahl diese Rolle zugetraut wird. Es muss der LINKEN auch zu denken geben, dass sie bei Arbeiterinnen und Arbeitern inzwischen die letzte Partei ist – noch nach der FDP! Zu denken geben muss der LINKEN ebenso, dass man sie bundesweit in diesem Wahlkampf erst durch die Warnung Armin Laschets vor einer ›rot-Grün-roten‹ Koalition überhaupt wieder auf dem Zettel hatte. Es sollte uns erschrecken, dass man die Glaubwürdigkeit der LINKEN in der Ablehnung militärischer Interventionen in Windeseile wieder verspielen konnte durch ein Abstimmungsverhalten im Bundestag, das sich am Infostand den Bürgerinnen und Bürgern nicht sinnvoll erklären ließ. Keine Ruhe lassen sollte der LINKEN, dass sie auf ihrem eigenen Kerngebiet, der sozialen Frage, bei der Wählerschaft an Kompetenzzuschreibung verloren hat und es nicht gelungen ist, sozial Benachteiligte als Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Für diesbezügliche Hinweise ehemaliger Wählerinnen und Wähler die Renten- und Alterssicherungspolitik betreffend wäre ich dankbar.
DIE LINKE braucht eine ehrliche Aufarbeitung ihrer Probleme und Defizite. Es geht nicht in erster Linie um eine selbstkritische Analyse des Wahlkampfes, sondern um Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre. Zugleich muss DIE LINKE als konstruktive Opposition bereit stehen, die zur Politik einer jetzt wahrscheinlichen ›Ampel-Koalition‹ Kritik sowie sinnvolle und gut sichtbare Alternativen vortragen möge. Wenig zuversichtlich bin ich, dass sich im Koalitionsvertrag eine Rentenpolitik wiederfinden wird, die die gesetzliche Rente stärken und Altersarmut massiv bekämpfen werden wird. Zu befürchten ist eher, dass als Schnittmenge von FDP, Bündnis 90/DIE GRÜNEN und Teilen der SPD versucht werden wird, die Alterssicherung noch stärker den Finanzmärkten zu überantworten. Es ist eine Irreführung der Wählerinnen und Wähler, wenn sich dabei immer auf die schwedische ›Prämienrente‹ als Vorbild berufen wird. Verschwiegen wird dabei die nach wie vor im Vergleich zu Deutschland viel solidarischere Ausgestaltung der dortigen gesetzlichen Rente. Die extremen Schwankungen und Unsicherheiten, die von Blasenbildungen an den Aktienmärkten einhergehen, werden ebenso verschwiegen. Reiner Heyse kommt in seiner Betrachtung zutreffend zum Ergebnis, die schwedische Prämienrente sei »im besten Fall ein Lehrbeispiel, wie Sozialpolitik eine verlässliche, verständliche und ausreichende Altersversorgung auf keinen Fall angehen sollte«. Zu Recht beklagt er, dass die sicherer und gerechter ausgestaltete gesetzliche Rente in Österreich in der öffentlichen Diskussion keine Rolle spielt.
Darin sehe ich einen wichtigen Auftrag der LINKEN in den kommenden Jahren: In der Erarbeitung und Popularisierung fortschrittlicher Alternativen, die die Situation der Menschen in wichtigen Lebenslagen wie Erwerbsarbeit, Erwerbslosigkeit und im Alter merklich verbessern. DIE LINKE muss Teil einer Mehrheit sein wollen, die solche Reformen durchsetzt. Nur dann wird sie wieder die Stimmen derjenigen erhalten, die von dieser Politik auch spürbar profitieren würden. Diesen Menschen, Ihnen und Euch, fühle ich mich weiterhin verpflichtet, und in diesem Sinne werde ich im 20. Deutschen Bundestag wirken wollen.
Es würde mich sehr freuen, dazu möglichst viele von Ihnen und Euch als Mitstreiter:innen und Unterstützer:innen gewinnen zu dürfen.
Herzlichst,
Ihr und Euer Matthias W. Birkwald
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