Seit mehreren Wochen gehen in Frankreich Millionen Menschen immer wieder gegen die Rentenreform auf die Straße. Mittlerweile sind es zwölf Mal und fast jedes Mal waren um die eine Million Menschen protestierend auf der Straße - mal mehr, mal weniger. Sie alle eint die Ablehnung der geplanten Verschlechterungen bei der Rente, wie zum Beispiel die Erhöhung des Renteneintrittsalters für eine abschlagsfreie Rente. Aber auch ihre Wut über die undemokratische Durchsetzung der Reform durch Präsident Emmanuel Macron eint sie. Er hatte die Rentenreform nicht zur Abstimmung durch das Parlament gebracht, aus Angst davor, dass es keine Mehrheit dafür geben werden würde. Stattdessen nutzte er die verfassungsrechtliche Regelung des Art. 49.3, mit dem er eigenmächtig als Präsident Gesetze erlassen kann. Diese Regelung sollte eigentlich nur im Notfall verwendet werden, Präsident Macron nutzte sie jedoch bereits in der Vergangenheit einige Male, um seine politische Agenda durchzubringen. Die Misstrauensanträge der Opposition überstand Premierministerin Elisabeth Borne. Es folgte die Anrufung des Verfassungsrates, der, ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht, über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen entscheidet. Heute, am 14. April wird er seine Entscheidung vorlegen. Der Rat könnte die Reform ganz oder in Teilen für verfassungswidrig erklären. Entscheiden soll er zudem auch über ein mögliches Referendum gegen die Reform.
Inhalt der Rentenreform ist die Anhebung des Renteneintrittalters für eine abschlagsfreie Rente von 62 auf 64 Jahre, wobei vor allem die benötigten Versicherungsjahre schnell von 42 Jahren auf 43 Jahre ansteigen sollen. Dies sei notwendig, um die Finanzierung des Rentensystems in der Zukunft gewährleisten zu können, so Präsident Macron. Die Anhebung des Renteneintrittsalters ist ein bei marktradikalen Politikerinnen und Politikern beliebtes Instrument, um Finanzierungsprobleme in der Rente auf Kosten der Beschäftigten zu „lösen“. In Deutschland wurde mit ähnlichen Begründungen 2007 beschlossen, die Regelaltersgrenze ab 2012 stufenweise von 65 auf 67 Jahre anzuheben. Dabei wurde aber die Lebensrealität der Menschen verkannt, die oft einfach aus gesundheitlichen Gründen nicht länger arbeiten können. Die Anhebung der Altersgrenzen führte deshalb in erster Linie dazu, dass Viele Abschläge in ihrer Rente hinnehmen müssen oder sich mit prekären Jobs oder Bürgergeld-Bezug bis zum hohen Rentenalter hangeln. Nur wenige Beschäftigte schaffen es in Deutschland bis zum regulären Renteneintrittsalter. Der Staat „spart“ hier also nicht dadurch, dass die Menschen länger arbeiten, sondern dadurch, dass ihre Renten faktisch niedriger sind. Eine Anhebung von 62 auf 64 Jahre in Frankreich mag dabei für deutsche Ohren vielleicht moderat klingen, verschweigt jedoch die Realität der französischen Beschäftigten. Da diese ihre benötigten aktuellen 42 Versicherungsjahre für eine abschlagsfreie Rente überhaupt erst einmal erreichen müssen, ist das faktische Eintrittsalter meist viel höher und soll jetzt durch den schnellen Anstieg auf 43 Versicherungsjahre noch steigen. Das Perfide: Besonders betroffen sind Beschäftigte mit niedrigen Einkommen und körperlich anstrengenden Jobs. Und was viele Menschen in Deutschland gar nicht wissen: Die Regelaltersgrenze liegt in Frankreich bereits heute bei 67 Jahren. Das bedeutet, wer die heute 42 und künftig 43 Versicherungsjahre für eine abschlagsfreie Rente nicht erreicht, muss gegebenenfalls bis 67 arbeiten. Und genau das können Jene, die ihr Leben lang überwiegend körperlich gearbeitet haben, nicht. Dazu kommt, dass auch in unserem Nachbarland diejenigen mit den niedrigen Einkommen deutlich eher sterben müssen als diejenigen mit den hohen Einkommen und genau darum ist die französische Rentenreform absolut inakzeptabel.
In Deutschland wird über die Proteste unserer Nachbarn eher am Rande und inhaltlich unzureichend berichtet, gepaart mit Bildern von Müllbergen in Paris. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Forderungen der Gewerkschaften und aus der Bevölkerung oder gar ein Vergleich mit den Problemen unseres Rentensystems bleibt weitgehend aus. Dabei nimmt in Deutschland die Altersarmut stetig zu, prozentual und absolut und immer mehr Menschen fürchten sich davor, dass sie später im Alter in Armut leben werden. Leider zu Recht, angesichts der Kürzungen der gesetzlichen Rente zu Gunsten der privaten Versicherungswirtschaft, angestoßen durch die Agenda-Politik der SPD Anfang der 2000er Jahre. Geplante Reformen für eine Einbindung der Kapitalmärkte in die gesetzliche Rentenversicherung (das sogenannte „Generationenkapital“ von Finanzminister Christian Lindner) gehen wieder einmal an den dringenden Problemen vorbei und werden vermutlich erneut vor allem der Finanzbranche nutzen.
Die Franzosen schaffen gerade eine der größten Protestbewegungen des 21. Jahrhunderts. Bemerkenswert ist vor allem die übergreifende Solidarität in der Bevölkerung. Die Demonstrationen vereinen alle Berufsgruppen und Generationen, vor allem junge, jüngere und mittelalte Menschen solidarisieren sich durch Protestaktionen, gerade auch an den Universitäten. Die Jungen in unserem Nachbarland haben eben begriffen, dass die jetzigen Entscheidungen eines Tages auch sie betreffen werden. Diese Solidarität ist bewundernswert und sie zeigt, wozu eine vereinte Arbeiterklasse fähig ist. Darum gehen die Französinnen und Franzosen regelmäßig auf die Straße. Für Deutschland wünschte ich mir das ebenso. Nur ohne Gewalt auf beiden Seiten.
Matthias W. Birkwald ist Sprecher der Fraktion für Rentenpolitik und Alterssicherungspolitik, Stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Französischen Parlamentariergruppe und Mitglied der Deutsch-französischen Parlamentarischen Versammlung.
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Bundestagsrede in der Orientierungsdebatte am 26. Januar 2022