von Matthias W. Birkwald MdB und Olga Jablonka*
ursprünglich sollte sich dieser Text mit der Kritik am Rentenpaket II befassen. Nun ist die Ampel-Koalition geplatzt und das Rentenpaket II wird definitiv nicht mehr beschlossen werden. Dennoch war und ist die Diskussion darum sehr lehrreich. Sie zeigt uns, was in der politischen und medialen Debatte um die Rente schief läuft; denn die Rentenfrage ist selbstverständlich keine Generationenfrage, sondern eine Verteilungsfrage. Trotzdem scheint es schwierig, durch den Mainstream-Dschungel des Demografie-Alarmismus durchzudringen. Wir wollen es aber versuchen.
Die rentenpolitische Debattenlage der Ampel – ein kurzer Überblick
Rentenpolitischer „Fortschritt“ im Koalitionsvertrag?
Die Koalitionsverhandlungen der „Fortschritts“-Ampel waren erstaunlich ambitioniert in der Rentenpolitik und so „fortschrittlich“, wie man es von einer Koalition aus SPD, Grünen und FDP erwarten durfte. Die Selbstständigen sollten eingebunden werden, das Rentenniveau dauerhaft stabilisiert und auch für die besonders von Altersarmut betroffenen Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner sollte es Zuschläge geben. Zudem waren weitere Reformen der Betriebsrenten und der privaten Vorsorge verhandelt worden.
Doch selbstverständlich gab es das für SPD und Grüne nicht zum Nulltarif. Der FDP wurde leider als Zugeständnis der Einstieg in die Kapitaldeckung bei der gesetzlichen Rente erlaubt. Dabei verhandelten SPD und Grüne das von der FDP vorgeschlagene Modell der Aktienrente, bei dem auch Beiträge am Kapitalmarkt angelegt werden sollten, in einen durch Staatsschulden finanzierten Aktienfonds, genannt „Generationenkapital“, um. Dieser sollte abseits der Rentenversicherung Geld ansammeln und diese dann bezuschussen.
Die Einigung auf die Stabilisierung des Rentenniveaus bedeutete eine Abkehr von der durch die Agenda 2010 und die Merkel-Jahre versteifte Fokussierung auf die Beitragsstabilität und hin zur dringend notwendigen Betrachtung der Leistungsseite: der Höhe der Renten. Ein erfreulicher Schritt angesichts der Anfang der 2000er Jahre unter der SPD und den Bündnisgrünen begonnenen Absenkung des Rentenniveaus von lebensstandardsichernden 53 Prozent auf magere 48 Prozent, in dessen Folge sich die Altersarmutsquoten in Deutschland beinahe verdoppelten. Denn ohne eine Stabilisierung des Rentenniveaus sänke dieses bis zum Jahre 2045 auf deutlich unter 45 Prozent, die Altersarmut stiege weiter dramatisch an. Selbstverständlich sind diese 48 Prozent nie genug gewesen, dennoch: das Rentenniveau zumindest auf 48 Prozent zu stabilisieren und ein weiteres Absinken zu verhindern, war ein Schritt in die richtige Richtung.
Schleppende Umsetzung der rentenpolitischen Vorhaben bis zum Koalitions-Aus
Das Rentenpaket II war bereits Anfang des Jahres 2023 angekündigt worden und besonders das sogenannte „Generationenkapital“ wurde vom (inzwischen entlassenen) Bundesfinanzminister Christian Lindner intensiv beworben. Für den FDP-Chef Lindner wäre es ein „sozialpolitischer“ Coup gewesen, die Kapitalmärkte, die bereits in der zweiten und dritten Schicht der Alterssicherungssysteme maßgeblich beteiligt sind, nun auch in die erste Schicht, also der der gesetzlichen Rentenversicherung, zu integrieren. Bei der Auftaktveranstaltung 2023 im Bundesfinanzministerium ging es dabei auch um alles Mögliche, um die gesetzliche Rente jedoch nicht. Neben Finanz-Influencern und der Vorsitzenden des KENFO, der das „Generationenkapital“ zunächst verwalten sollte, überschlug sich Christian Lindner vor Begeisterung, den Deutschen jetzt endlich auch als staatlicher Akteur die Vorzüge des Kapitalmarkts schmackhaft machen zu können.
Nach mehrfachen Ankündigungen, das Paket würde im Sommer 2023 im Kabinett beschlossen werden, blieb es jedoch bis zum Frühjahr 2024 sehr still. Stattdessen gab es FDP-Veranstaltungen zum Einstieg der gesetzlichen Rente in den Aktienmarkt und eindeutige Ankündigungen, dass das – aus ihrer Sicht – verhältnismäßig milde sogenannte „Generationenkapital in kommenden Regierungsbeteiligungen zu einer „echten Aktienrente“ auszubauen sei, bei der auch Beiträge der Versicherten direkt am Aktienmarkt investiert werden sollten.
Im April 2024 erschien dann der Referentenentwurf. Erste Lesung und Anhörung sollten noch vor der Sommerpause stattfinden. Doch wieder: Funkstille. Erst nach der Sommerpause und der Einigung der Ampel-Koalitionäre im Haushaltsstreit mit der „Wachstumsinitiative“ ging es voran. Nach der Sommerpause fand die erste Lesung statt, Beratung im Ausschuss und Anhörung gleich darauf in den nächsten beiden Sitzungswochen. Auch die finalen Abstimmungen im Ausschuss und im Plenum des Deutschen Bundestages waren bereits intern in derselben Woche festgesetzt, auf der Tagesordnung dann aber doch nicht zu finden. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Johannes Vogel MdB, verkündete, das Paket müsse noch nachverhandelt werden. Der Blockade schlossen sich öffentlich einige FDP-Abgeordnete an. Doch weder in der Beratung im Ausschuss, noch in der Anhörung und ebenfalls nicht in internen Koalitionskreisen, wie man vernehmen konnte, nannte die FDP konkrete Forderungen für die Nachverhandlungen. Unseriöser ging es kaum.
An Dramen mangelte es in der Rentenpolitik auch abseits des Rentenpakets II nicht. Sowohl das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) als auch das Bundesministerium für Finanzen (BMF) veröffentlichten im Herbst 2024 Referentenentwürfe zu weiteren kapitalorientierten Reformen der betrieblichen Altersversorgung bzw. der betrieblichen Altersvorsorge und der privaten Altersvorsorge.
Man munkelte, von Finanzminister Lindners Riester-Reformplänen habe das BMAS auch erst bei der Veröffentlichung erfahren. Doch diese Provokation war dem FDP-Vorsitzenden noch nicht genug.
Ende September blockierte er für einen längeren Zeitraum die Sozialversicherungs-Rechengrößen-Verordnung. Ein unglaublicher Vorgang, denn selbige war bis dato in jedem neuen Kalenderjahr stets eine sozialversicherungsrechtliche Normalität gewesen. Mit ihr wurden seit Jahrzehnten die den Sozialversicherungsbeiträgen zugrunde liegenden Rechengrößen jährlich angepasst. Darin enthalten waren und sind die sogenannten Beitragsbemessungsgrenzen für die Kranken-, die Pflege-, die Arbeitslosen- und vor allem auch die Rentenversicherung, als auch das vorläufige Durchschnittsentgelt, anhand derer die erworbenen Rentenpunkte berechnet werden können. Christian Lindners Blockade war ein heftiger Affront gegen die Solidargemeinschaft. Wären die Beitragsbemessungsgrenzen bis zum neuen Jahr nicht kurz vor Toresschluss doch noch angehoben worden, hätten der Rentenversicherung notwendige Einnahmen gefehlt und die Beiträge hätten steigen müssen. Als Bundeskanzler Olaf Scholz also zum Ampel-Aus von den klientelpolitischen Blockaden des Finanzministers sprach, war dies vermutlich eine derjenigen, die das Fass schlussendlich zum Überlaufen brachten.
Generationenkonflikt als Kampfbegriff der Marktradikalen
Wer bezahlt die Renten?
Doch zurück zur Debatte zum Rentenpaket II. Dort tritt ein interessantes, wenn auch für die Rentenpolitik unvermeidbares Phänomen auf: das Aufbauschen eines Generationenkonflikts. Beim Rentenpaket II wurde dieser an den Kosten des Gesetzesentwurfs aufgehängt. Um die Stabilisierung des Rentenniveaus bei 48 Prozent zu finanzieren, müssten sowohl die Beiträge zur Rentenversicherung als auch die Bundeszuschüsse angehoben werden. Ein viel zu simples Grundverständnis des der Rentenversicherung zu Grunde liegenden Umlageverfahrens führt also zu folgender falschen Schlussfolgerung: die Jungen müssen zahlen und die Alten profitieren.
Das ist selbstverständlich völliger Quatsch. Um es deutlich zu machen: Zehnjährige Kinder zahlen gar nichts, was auch gut so ist, denn es besteht Schulpflicht, aber sie sind zweifellos jung. Andererseits zahlen auch 35-jährige, 45-jährige, 55-jährige und 65-jährige Beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung ein, bevor sie, je nach Jahrgang, beispielsweise in die Regelaltersrente wechseln. Unstrittig sind 55-jährige, 60-jährige und 65-jährige nicht mehr jung, sondern älter. In Wirklichkeit zahlen nicht die Jungen für die Alten, zumal es auch 20-jährige Rentner und Rentnerinnen gibt, diejenigen zum Beispiel, die eine Waisenrente erhalten. Es gibt auch 48-jährige Rentnerinnen und Rentner, beispielsweise Menschen, die ihren Partner oder Partnerin verloren haben und nun eine Hinterbliebenenrente erhalten. Generell dürfen die Seniorinnen und Senioren nicht mit den Rentnerinnen und Rentnern verwechselt werden. Ebenso dürfen die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler nicht mit den Jungen verwechselt werden. Jung ist man ausweislich fast aller politischer Jugendverbände nur bis maximal zum 35. Geburtstag. Rentenbeiträge zahlen die Menschen aber bis zu ihrem Berufsaustritt Jahrzehnte später.
Diese Aufzählung sollte deutlich machen, dass es bei der Rentenfinanzierung nicht um Jung und Alt geht, zumal es immer mehr Rentnerinnen und Rentner gibt, die weiterarbeiten.
Entscheidend sind die Einnahmen aus den Beiträgen. Diese sind nicht mit der Anzahl der Beitragszahler und Beitragszahlerinnen gleichzusetzen, sondern im Wesentlichen von der Höhe der Beitragszahlungen abhängig.
Selbige sind selbstverständlich an die Höhe der Löhne gekoppelt. Der Dreiklang „gute Arbeit, gute Löhne, gute Rente“ verdeutlicht dies. Deshalb sorgte auch in den vergangenen Jahren die günstige Arbeitsmarktentwicklung für die gute finanzielle Entwicklung der Rentenversicherung, deren Nachhaltigkeitsrücklage im September 2024 mit 40,6 Milliarden Euro (1,43 Monatsausgaben) gut gefüllt war.
Die Union als Retter der Jugend?
Die Union wollte sich in der Debatte um das Rentenpaket II an die Speerspitze des Generationenkonfliktes stellen. Dies verwunderte jedoch an einigen Stellen, wie zum Beispiel bei der ersten Lesung, in der der Unions-Abgeordnete Mathias Middelberg junge Menschen irrsinnigerweise aufforderte, sich gegen das Rentenpaket II auf der Straße festzukleben.
In der öffentlichen Sachverständigen-Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales inszenierten sich die Unions-Abgeordneten als Retter der Jugend, indem sie den von ihnen eingeladenen marktradikalen Ökonomen fast ausschließlich Fragen zu den angeblich ach so explodierenden Kosten stellten. Der Bundesrechnungshof spielte fleißig mit und wiederholte die völlig aus dem Zusammenhang gerissene Äußerung, das Rentenpaket II koste 500 Milliarden Euro. Das mag wohl stimmen, allerdings summiert bis ins Jahr 2045. Im Jahr 2023 hatte die Rentenversicherung übrigens ein Einnahmevolumen von 381,2 Milliarden Euro. Mehr als eine Milliarde Euro am Tag.
Darauf wies auch der Sachverständige des DGB, Ingo Schäfer, hin und ordnete weiter ein: „Aus unserer Sicht sind solche Zahlen (…) des Bundesrechnungshofs nicht angemessen. Wenn ich über 20 Jahre hochrechne, hat der Bundeshaushalt ein Gesamtvolumen von 15 000 Milliarden Euro, das Bruttoinlandsprodukt 120 000 Milliarden Euro. (…) Damit kann ich immer Schockmeldungen produzieren und habe keine Aussage getroffen (…). Die Sozialreform Anfang des Jahrhunderts, als das Rentenniveau gesenkt worden ist, bedeutet, dass die Arbeitnehmer/-innen heute mindestens sieben Prozent ihres Bruttolohns einsparen müssten – zusätzlich – damit sie das Sicherungsniveau halten können. Das ist ein Volumen von über 100 Milliarden Euro per annum, das die Beschäftigten zu zahlen haben. Das war die größte Sozialreform dieses Jahrhunderts bisher (...).“
Zur Frage der Kosten führte er weiter aus: „Der Beitragssatz ist trotz demografischen Wandels und vier bis fünf Millionen mehr Rentnerinnen und Rentnern heute so niedrig wie er in den 1990er Jahren war. Der Anteil des Bundeszuschusses an den Einnahmen der Rentenversicherung ist niedriger als er im Jahr 2000 war. Der Anteil der Bundeszuschüsse am Bundeshaushalt ist niedriger als er im Jahr 2000 war. In allen Dimensionen gehen die Belastungen seit über 20 Jahren zurück. Und wir diskutieren medial permanent, dass diese Ausgaben explodiert seien.“
Hinterher stellten sich die Unions-Abgeordneten dennoch feixend vor die Kameras, um zu behaupten, die Anhörung hätte ergeben, wie ungerecht und teuer das Rentenpaket doch für die nachfolgenden Generationen sei. Absurdes Theater, zumal weitere Sachverständige exakt das Gegenteil gesagt hatten.
Die wirkliche Generationenungerechtigkeit
Wenn man sich dann aber fragt, was die jungen Generationen wirklich zum Thema Rente umtreibt, so stößt man auf völlig andere Gedanken. Die Sorge um die Altersarmut der Großeltern und Eltern und der eigenen werden dabei am häufigsten genannt. Gleichzeitig erkennen die jungen Menschen, dass das aktuelle System gar nicht geeignet ist, sie ausreichend abzusichern, falls sie nicht eine durchgehende Erwerbsbiografie mit gutem Gehalt vor sich haben. Letztere entspricht jedoch nicht den heutigen Realitäten. Selbständigkeit, oft wechselnde Jobs oder auch Teilzeit-Modelle sind leider Gift für eine gute Rente. Doch angesichts der hohen Inflation bzw. eines dauerhaft hohen Preisniveaus, explodierender Mietkosten und prekärer Arbeitssituationen erkennen auch viele jungen Menschen, dass sie kein Geld für ihre private Vorsorge zur Seite legen können. So sinkt das Vertrauen in das Alterssicherungssystem. Ernstzunehmende Reformvorschläge sind weder von SPD, Bündnisgrünen und schon gar nicht von Union, FDP oder gar der AfD in Sicht. Das Rentenniveau noch weiter absinken zu lassen, wäre die größte Ungerechtigkeit für die kommenden Generationen. Denn auch sie haben das Recht auf gute oder zumindest auf stabile Renten im Alter! Die Generationen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Gute Renten sollten ebenso selbstverständlich sein wie massive Investitionen in Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.
Nochmals: falls das Rentenniveau jetzt nicht stabilisiert werden würde, würde es mittel- bis langfristig auf unter 45 Prozent oder noch tiefer absinken. Schon die Absenkung von 53 auf 48 Prozent hat die Altersarmut verdoppelt. Das weitere Absinken des Rentenniveaus wird dramatische Auswirkungen haben und jegliche soziale Absicherung durch die gesetzliche Rente noch weiter unterminieren. Wenn die Rente nach langjähriger Einzahlung nicht mal mehr über das Grundsicherungsniveau kommt, wird sie ihre Legitimation verlieren. Jeder – und damit sind FDP, CDU/CSU, AfD und jegliche marktradikale Ökonomen gemeint – der dieses Absinken in Kauf nehmen will, muss eine Antwort darauf haben, wie mit diesen sicher absehbaren dramatischen Folgen umgegangen werden möge.
Der ehemalige Forschungsleiter der Deutschen Rentenversicherung, Dr. Reinhold Thiede, analysierte bereits 2023, dass sich die demografische Entwicklung günstiger entwickelt habe, als bisher angenommen.
In der 15. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung habe sich durch prognostizierte Zuwanderung und Arbeitsmarktentwicklungen weitaus besseres Bild für die Rentenfinanzen ergeben, als noch in der 13. und 14. Dr. Thiede geht davon aus, dass die anstehende Entwicklung hinter bereits bewältigten Alterungen der Gesellschaft zurückbleibe. Dies betonte auch der Sachverständige der Deutschen Rentenversicherung Bund, das Direktoriumsmitglied Dr. Stephan Fasshauer, nochmals in der öffentlichen Anhörung zum Rentenpaket II auf eine entsprechende Frage meinerseits.
Was kostet die Stabilisierung bzw. Anhebung des Rentenniveaus?
Eines ist ja richtig: die Beitragseinnahmen werden durch das Rentenpaket II auf 22,3 Prozent ab dem Jahr 2038 ansteigen. Doch sie würden ebenso ansteigen, wenn das Rentenpaket nicht käme und das Rentenniveau absinken würde, dann halt „nur“ auf 22,1 Prozent. Durch die Stabilisierung des Rentenniveaus kämen also nur rund 1,2 Prozentpunkte Beitrag mehr hinzu, geteilt durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber. In aktuellen Werten sind das für einen durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmer 22,68 Euro im Monat mehr für die Stabilisierung des Rentenniveaus. Und für die Rentner? Eine sogenannte Standardrente nach 45 Jahren Durchschnittsverdienst läge bei Absinken des Niveaus auf 45 Prozent aktuell ganze 110 Euro niedriger als bei einem Rentenniveau von 48 Prozent, also mehr als sechs Prozent. Das muss verhindert werden.
Das zeigt, um welche Beträge es eigentlich geht. Auch eine Anhebung auf ein Rentenniveau von 53 Prozent ist mit moderaten Beitragssteigerungen finanzierbar. Die Anhebung auf 53 Prozent würde eine durchschnittlich verdienende Arbeitnehmerin (3780 Euro brutto) und ihren Chef aktuell jeweils nur gut 46 Euro im Monat kosten. Ein Rentner oder Rentnerin mit 45 Versicherungsjahren zum jeweiligen Durchschnittsverdienst hätte dafür 184 Euro mehr Rente monatlich (netto vor Steuern 162 Euro). Insgesamt erheischt eine solche Anhebung eine Beitragssatzerhöhung von 2,44 Prozentpunkten. Das entspräche 39,69 Milliarden Euro, wovon 7,46 Milliarden aus Steuermitteln kämen. Ein durchschnittlich verdienender Arbeitnehmer muss aktuell pro Monat 136,61 Euro in seinen voll besparten Riester-Vertrag einzahlen. Durch ein Rentenniveau von 53 Prozent könnte er dies unterlassen und würde somit sogar noch um 90 Euro im Monat entlastet werden. Damit könnte er privat vorsorgen ohne es zu müssen.
Was für einen einzelnen Arbeitnehmer 22,68 bzw. 46 Euro im Monat sind, läppert sich aber für die Arbeitgeber. Auch diese beteiligen sich daher lautstark an dem Märchen, die Stabilisierung des Rentenniveaus sei nicht generationengerecht. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Lastenverschiebung zu Ungunsten der Beitragszahlenden
Interessant bei diesem Diskurs ist, welche Lastenverteilung bisher noch keine Beachtung fand. Mit dem Rentenpaket II sollte auch die Fortschreibung der Bundeszuschüsse reformiert werden, also derjenige Teil der Einnahmen der Rentenversicherung, der aus Steuermitteln finanziert wird. Durch das Paket fiele der Anteil der Bundeszuschüsse an den Renteneinnahmen im Verhältnis geringer aus als bisher. Dabei ist eine solche Lastenverschiebung vom Bund zulasten der Beitragszahler kritikwürdiger als die Verteilung zugunsten der Renten. Man bedenke, dass die Bundeszuschüsse bereits jetzt als zu gering bemessen gelten. Das bedeutet, dass nicht beitragsgedeckte Leistungen, die eigentlich aus Steuermitteln finanziert werden sollten, von den Beitragszahlern gezahlt werden. Es ist daher auch falsch, dass Union und FDP in der öffentlichen Anhörung des Sozialausschusses gemeinsam mit dem Bundesrechnungshof wider besseres Wissen suggerierten, das Rentenpaket II belaste den Bundeshaushalt übermäßig. Jegliche Ausweitung privater Vorsorge zu Lasten der gesetzlichen Rente, wie schon bei der Riester-Reform, wird dazu führen, dass die Arbeitnehmer immer mehr von ihrem Gehalt in die Alterssicherung einzahlen müssten – ohne die Beteiligung ihres Arbeitgebers. Ob sie das aufgrund steigender Lebenshaltungskosten überhaupt leisten könnten, bleibt ebenso unbeantwortet wie die Frage, ob sich das überhaupt lohnte. Jegliche Reformvorschläge für die private Vorsorge und die Betriebsrenten weisen die Entwicklung in Richtung Garantieabbau und weg von der Absicherung des Lebensrisikos, der Erwerbsunfähigkeit und des Langlebigkeitsrisikos. Sie sind daher völlig ungeeignet, die soziale Absicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung zu ersetzen.
Solidarsysteme bedeuten Umverteilung
Selbstverständlich ist es richtig, die Lastenverschiebung auf die Beitragszahler und Beitragszahlerinnen zu thematisieren. Sie darf aber nicht - wie in den vergangenen Jahrzehnten - zu Lasten der Renten gehen.
Die Antwort ist so offensichtlich wie einfach: Umverteilung. Eine Ausweitung des Solidarsystems auf alle Erwerbstätigen steht dabei an erster Stelle. Aktuell haben die Gut-, Besser- und Bestverdiener (Beamte und Freiberufler wie Anwälte, Ärzte, Zahnärzte, Architekten) mit Pension und Versorgungswerken ihre eigene Absicherung. Eine Erweiterung der Rentenversicherungspflicht um diesen Personenkreis hat dabei Studien zufolge mittel- und langfristig gute Effekte auf die Finanzierung der Rentenversicherung. Ebenso würde sie viele Ungerechtigkeiten beseitigen, wie zum Beispiel die, dass den Pensionären und Pensionärinnen ein Inflationsgeld von bis zu 3.000 Euro ausgezahlt wurde, während die Rentnerinnen und Rentner mit 300 Euro Energiegeld abgespeist wurden.
Eine solche Reform sorgte für eine „demografische Untertunnelung“, da mit Rücksicht auf Vertrauensschutzgesichtspunkte nur die neuen Beamten einbezogen werden würden und diese die Einnahmen der Rentenversicherung in der Zeit der Babyboomer-Welle verstärken würden. Sie selbst gingen aber erst dann in Rente, wenn sich das „Demografieproblem“ durch den natürlichen Zeitablauf erledigt hätte.
Weitere Maßnahmen, wie beispielsweise die Verdoppelung der Beitragsbemessungsgrenze der GRV und eine Abflachung daraus entstehender sehr hoher Renten im höchsten verfassungsmäßig zulässigem Maße durch Einführung einer Beitragsäquivalenzgrenze, verbesserten ebenfalls die Einnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung. Eine stärkere Beteiligung der Arbeitgeber an den Versicherungsbeiträgen ist in anderen europäischen Ländern, wie zum Beispiel in Spanien, Schweden, Österreich, Frankreich, oder Italien eine völlige Selbstverständlichkeit und würde die Arbeitnehmer entlasten.
Dramatische Berichterstattungen zur Rente
Viele Meinungsartikel schlucken jedoch die einfache Mär des demografischen Schreckgespenstes. So wunderte es auch nicht, dass die FDP das Rentenpaket II blockierte, obwohl es auch ihr Prestige-Projekt, das sogenannte „Generationenkapital“ enthielt. Aus dem Umfragetief heraus schien sie sich bei ihren Klientelmedien einen Vorteil zu erhoffen. Doch wer die Generationenungerechtigkeit herbeischreibt, der muss auch eine Antwort auf die Auswirkungen eines sinkenden Rentenniveaus finden.
Weiterhin gilt: Rentner sollte man nicht mit Senioren, die Pensionen beziehen oder mit Menschen mit sonstigem Vermögen verwechseln. So entsteht medial der Eindruck des alten weißen Rentners, der der jungen Generation nicht nur einen zerstörten Planeten hinterlässt, sondern sie auch noch finanziell ausquetschen will und wie die Made im Speck lebt. Diese Erzählung ist genauso unwahr wie fatal. Mehr als drei Millionen alte Menschen gelten in Deutschland als arm, zwei Millionen davon Frauen und 1,2 Millionen Männer. 900.000 Menschen beziehen Leistungen der „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“. Ein Großteil der armen Rentner geht nicht zum Sozialamt; aus Unkenntnis oder häufig aus Scham oder Angst, die Kinder und Enkel würden finanziell in Haftung genommen. Mehr als 600.000 alte Menschen bezogen2023 Wohngeld, mehr als 400.000 „Hilfe zur Pflege“. Hier kann es nicht um die Meinung der Hauptstadtjournalisten oder der Wirtschaftsprofessoren gehen, denn sie werden später alle eine sehr gute Rente, Betriebsrenten oder eine sehr ordentliche Pension erhalten. Hier geht es auch nicht um die Meinung der Bundestagsabgeordneten, Staatssekretäre, Minister, Parteivorsitzenden oder früherer Blackrock-Manager. Sie alle sind gut oder sehr gut abgesichert. Allein die Debatte darüber, dass die Renten immerhin ja nicht nominal gekürzt würden, sie würden nur weniger „stark“ ansteigen, ist mehr als nur verharmlosend. Auf ihrer Grundlage auch noch Politik machen zu wollen, ist einfach nur menschenverachtend.
Ausblick und linke Rentenpolitik
Aktuell lebt jeder fünfte Rentner, jede fünfte Rentnerin in Altersarmut. Der Zusammenhang zum zusammengekürzten System der gesetzlichen Rente ist eineindeutig und wird weiter klarer werden, zu Lasten aller kommenden Generationen und derjenigen, die nicht das Glück haben, durch eigene Altersicherungssysteme besser abgesichert zu sein. Darum ist klar: der Konflikt liegt bei der Alterssicherung nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen Arm und Reich. Wozu also einen Generationenkonflikt aufbauschen, wenn nicht, um von den Unzulänglichkeiten im jetzigen System abzulenken?
Reformvorschläge sind so realistisch wie dringend notwendig. Eine Wiederanhebung des Rentenniveaus muss an vorderster Stelle stehen. Dadurch würden alle Renten sofort, einmalig und zusätzlich um gut zehn Prozent angehoben. Geld, dass die Rentnerinnen und Rentner dringend bräuchten und das nach den Inflationsjahren 2021-2023, in denen die Rentenanpassungen hinter der Inflation blieben, absolut notwendig ist. Die Anhebung des Rentenniveaus ist die beste Prophylaxe gegen Altersarmut. Denn: gegen Armut hilft Geld.
Die Anhebung des Rentenniveaus ist mit dem entsprechenden politischen Willen umsetzbar. Das zeigt nicht zuletzt die im Rentenpaket II vorgesehene Stabilisierung bei 48 Prozent. Auf gut Deutsch heißt die Stabilisierung der Renten bei 48 Prozent, dass die Renten so schlecht bleiben sollen, wie sie sind. Das reicht nicht! Es ist gut und richtig, dass eine Anhebung auf 53 Prozent deshalb auch von nahezu allen Sozialverbänden (VdK, SoVD, der Paritätische, Volkssolidarität) und den beiden größten DGB-Gewerkschaften, der IG Metall und ver.di, gefordert werden.
Berichte zur Rente dürfen sich nicht in Schockmeldungen über das bald implodierende System erschöpfen. Ebenso falsch und vereinfachend ist es, die absoluten Milliardenbeträge, die von der Rentenversicherung ein- und ausgegeben werden, plakativ zu dramatisieren. Es sollte wohl klar sein, dass die Versorgung der gut 21,2 Millionen Rentnerinnen und Rentner hohe Summen erfordert. Das Vertrauen in unsere staatlichen Sicherungssysteme muss wieder hergestellt werden. Das geht allein durch eine Stärkung des Systems, damit es endlich wieder für alle funktioniert.
Fazit: Die gesetzliche Rente stärken!
Zum Schluss: Ist die Rente sicher?
Auf die allseits beliebte Frage, die uns Beiden gerne gestellt wird: „Ist die Rente sicher?“, ließe sich mithin antworten: Die gesetzliche Rentenversicherung hat mit ihrem solidarischen Umlagesystem mehrere verschiedene deutsche Staaten und zwei Weltkriege überstanden, diverse demografische Veränderungen sowie zahlreiche Weltwirtschafts- und Finanzkrisen. Die einzig realistische Bedrohung ist die schleichende Zerstörung und Kaputtkürzung der Rente, die von marktradikalen Kräften mit der Agenda 2010 begonnen wurde und deren Fortsetzung von der Öffentlichkeit bedauerlicherweise weitgehend unbemerkt voranschreitet. Begriffe wie „Generationengerechtigkeit“ und „demografischer Wandel“ werden missbraucht, um das System kaputt zu schreiben oder kaputt zu senden. Bemerken werden wir es erst, wenn wir selbst in Rente gehen werden. Daher sollten wir die jetzigen Rentnerinnen und Rentner ernst nehmen. Die Beschäftigten sitzen alle im gleichen Boot, egal wie alt sie sind. Wer nicht im Boot sitzt, der beklagt die angeblich zu hohen Kosten für die Rente merkwürdigerweise am lautesten. Diesen Sirenengesängen sollten sich alle klassenbewussten Menschen im Interesse der heutigen und aller künftigen Rentnerinnen und Rentner verschließen und alle anderen am Besten auch.
Statt Altersarmut: Renten rauf!
*Der Text bezieht sich häufig auf den Begriff Generationengerechtigkeit, daher sei erwähnt, dass ein Babyboomer und eine Vertreterin der Generation Z diesen Text gemeinsam verfasst haben.
Dipl.-Soz.Wiss. Matthias W. Birkwald MdB ist Renten- und Alterssicherungspolitischer Sprecher und Obmann der Linken im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages.
Die Volljuristin Olga Jablonka ist seine wissenschaftliche Mitarbeiterin und persönliche Referentin.
Aktueller denn je: Ausführliches Interview im „Versicherungsboten“ zu allen wichtigen Fragen rund um die gesetzliche und die private Rente
Bundestagsrede in der Orientierungsdebatte am 26. Januar 2022