»Ich will weiter gehen
Keine Tränen sehen
So ein Abschied ist lang noch kein Tod
Niemals geht man so ganz
Irgendwas von mir bleibt hier
Es hat seinen Platz immer bei dir.«
-Tommy Engel, Wolfgang Niedecken und Trude Herr
Au revoir, adieu und tschö!
Abschied als Bundestagsabgeordneter
Mit einigem Wehmut verabschiede ich mich an dieser Stelle von Ihnen und Euch als Mitglied des Deutschen Bundestages, weil ich für den 21. Deutschen Bundestag freiwillig und selbstbestimmt nicht mehr kandidiert hatte.
Darum ist dieser Eintrag mein letzter.
Meine Webseite https://www.matthias-w-birkwald.de/ wird künftig nicht mehr aktualisiert werden, aber „eingefroren“ als Archiv allen Interessierten noch eine zeitlang zur Verfügung stehen.
Der zu meinem großen Bedauern ohne Sinn vorgezogenen Bundestagswahl geschuldet, erreichen Sie und Euch diese Worte sieben Monate eher als mir lieb gewesen wäre. Aufgrund der zahlreichen politischen Fehler aller drei Ampelparteien und der daraus resultierenden Entwicklung politischer Mehrheiten in Deutschland endet nun mein Bundestagsmandat. Ich bedaure es außerordentlich, dass eine große, solidarische Reform zur Wiederherstellung einer gesetzlichen Rente, die endlich den Lebensstandard wieder sichern möge noch genauso auf sich warten lässt, wie eine dringend notwendige armutsfeste einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente, denn niemand soll im Alter in Armut leben müssen.
Ich bleibe jedoch zuversichtlich, dass die breiten gesellschaftlichen Mehrheiten für eine Rentenpolitik in eben diesem Sinne, die Umfrage auf Umfrage trotz des medial und politisch entgegengesetzten Dauerfeuers ausweisen, eines Tages in eine entsprechende Politik münden mögen.
Dabei hoffe ich inständig, durch mein langes politisches Wirken die Weichen ein wenig mit dafür gestellt zu haben. Zu diesem Zwecke habe ich einen großen Teil meiner Unterlagen der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der neuen linken Bundestagsfraktion zur Verfügung gestellt.
Zudem wird meine Webseite noch eine Zeit lang als Archiv verfügbar bleiben, das gerne als Inspiration und Materialsammlung für eine linke Renten- und Alterssicherungspolitik genutzt werden möge.
„Es kommt alles wieder, was nicht bis zum Ende gelitten und gelöst wird“, schreibt Hermann Hesse in ›Siddhartha‹.
Blicke ich heute auf meine Zeit in der Politik zurück, überwiegt ganz klar die Dankbarkeit. Mit 15,5 Jahren war ich beinahe so lange Bundestagsabgeordneter, wie Dr. Norbert Blüm Rentenminister bzw. Minister für Arbeit und Soziales und Dr. Helmut Kohl sowie Dr. Angela Merkel Bundeskanzler, beziehungsweise Bundeskanzlerin sein durften. Ich war fast 45 Jahre ehrenamtlich in der Politik aktiv, und fast 35 Jahre hauptamtlich. Mehr als ein Vierteljahrhundert pendelte ich zwischen Köln und Berlin, seit der Bundestag 1999 in die alte und neue Hauptstadt zurücksiedelte. Lange Jahre davon mit der Deutschen Bahn, was in den vergangenen drei Jahren immer schwieriger wurde. 15 Jahre war ich wissenschaftlicher bzw. persönlicher Mitarbeiter oder Büroleiter einer linken Gruppe oder Fraktion im Bundestag oder eines Mitglied des Bundestages (Dr. Heidi Knake-Werner, Wolfgang Bierstedt, Prof.Dr. Lothar Bisky, Dr. Steffen Hultsch) oder Persönlicher Referent einer Senatorin in der Landesregierung des Landes Berlin (Dr. Heidi Knake-Werner).
Mitte/Ende der 1990er Jahre war ich gemeinsam mit Horst Kahrs Autor der ersten parlamentarischen Initiative zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns im Deutschen Bundestag. Dieses Vorhaben war damals auf der politischen Linken und in der Arbeiterbewegung, zu denen ich mich trotz mancher Kritikpunkte weiterhin fest zähle, keinesfalls unumstritten, ganz im Gegenteil. Mit meinem damaligen, hochgeschätzten Kollegen und zwischenzeitlich leider verstorbenen Kollegen, dem Sozialwissenschaftler Dr. Harald Werner habe ich darüber so manche Diskussion geführt. Heutzutage traut sich niemand mehr, offen den gesetzlichen Mindestlohn in Frage zu stellen. Das ist ein Fortschritt, über den ich mich sehr freue. Gleichzeitig ist der gesetzliche Mindestlohn immer noch nicht hoch genug.
Es bleibt also noch immer genug zu tun.
Ein Wiedersehen gab es in meiner langen politischen Zeit vielfach.
Nicht nur bei den Themen, sondern auch mit Personen. Manches Wiedersehen war mehr, manches weniger erfreulich. Ich begann meine parteipolitische Zeit, Jüngere werden sich die Augen reiben, nämlich in der FDP. Zu ihr kam ich über ihren Jugendverband, die Deutschen Jungdemokraten beziehungsweise den JungdemokratInnen NRW und dem Dokument „Leverkusener Manifest der Deutschen Jungdemokraten“ von 1971 und dem damaligen Parteiprogramm der FDP, den „Freiburger Thesen“ aus demselben Jahr. Beide mich politisiert habenden Dokumente heute zu lesen ist mit vielen Überraschungen und mit Blick auf die heutigen Liberalen auch mit Heiterkeit verbunden. Als diese sich mit der „Wende“ für eine Koalition mit Helmut Kohl entschieden, verließ ich mit vielen anderen 1982 die Partei, mein radikaldemokratischer Verband der Jungdemokraten – in dem ich als hauptamtlicher Jugendbildungsreferent und ehrenamtlicher Landesgeschäftsführer NRW engagiert war – wurde parteipolitisch heimatlos. Mit dem Umweg über die DKP, an deren (gescheiterter) demokratischer Erneuerung ich mitwirken wollte, fand ich zunächst den Weg in die PDS, in die mich Dr. Gregor Gysi persönlich holte und später auch über die WASG in Die Linke. In der Partei traf ich einige frühere Wegggefährtinnen und -gefährten wieder und durfte neue kennenlernen. Im Bundestag oder auf anderen politischen Ebenen begegneten mir frühere Jungdemokratinnen und Jungdemokraten, die immer noch bei der FDP, oder aber bei Bündnis 90/DIE GRÜNEN oder der SPD politisch beheimatet waren. Das waren beispielsweise Christoph Strässer (SPD), Roland Appel (Bündnisgrüne), Claudia Roth (Bündnisgrüne), Wolfgang Kubicki (FDP), Knud Vöcking (Linke) und Pascal Meiser (Linke), um nur einige zu nennen.
Die Liste früherer Chefs, Arbeits- und Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und erst durch die Politik entstandenen Freundschaften und Bekanntschaften ist zu lang, um sie hier aufzuführen und zu würdigen, wie es ihnen zustünde. Zwei bereits Verstorbene möchte ich aber doch nennen: Meinen früheren Chef, den langjährigen Parteivorsitzenden der PDS, der Linken und zwischenzeitlich auch der Europäischen Linken, Prof. Dr. Lothar Bisky. Er hat sowohl die Quellpartei, der er entstammte, als auch Die Linke sehr gut durch schwieriges Gewässer geführt. Lothar Bisky, dem nicht nur ich, sondern meine Partei Einiges zu verdanken hat, wurde womöglich durch seine bedächtige und moderierende Art oft unterschätzt. Dass er vor der Zeit 2013 starb, schmerzt mich bis heute sehr. Das gilt genauso für einen weiteren mir wichtigen Menschen und Genossen: Lange vor der Zeit verlor ich nämlich in 2024 auch meinen Wahlkreisbüroleiter und Freund Wolfgang Lindweiler. Seine kluge Stimme fehlt. Wenn, wie in jüngsten Jahren häufiger, eine knifflige politische Frage im Raum steht, frage ich mich oft:
„Was hätte Wolfgang wohl gesagt?“ Dass man sich seines hellwachen Verstandes wie seines übergroßen sozialen Herzens noch lange erinnern werden wird, ist für einen eingefleischten Linken, wie es Wolfgang war, ein Denkmal für sich.
Die vielen Bekanntschaften, die ich dank eines Lebens in der Politik habe gewinnen dürfen, waren und sind eine große Bereicherung. Ein Bundestagsmandat war und ist jedoch noch mehr, es ist ein Privileg. Es ist richtig, dass in einer Demokratie politische Macht nur auf Zeit verliehen wird, und ebenso richtig ist es, dass Menschen sich aufmerksam und wachsam verhalten gegenüber den Menschen, denen diese Macht verliehen wird. Ich habe zeitlebens versucht, dem Privileg des Mandats gerecht zu werden, indem ich einen Schwerpunkt auf die Fachpolitik gelegt und zur Machtpolitik möglichst auf Abstand geblieben bin. Im Fachjargon gesprochen: Mein Geschäft waren sehr überwiegend (wenn auch nicht nur) die ‚Policies‘, nicht die ‚Politics‘.
Es gab sicherlich immer genug zu tun. Meine Jahre als Bundestagsabgeordneter lassen sich ohne Übertreibung als anderthalb Krisen- und Umbruchsjahrzehnte überschreiben. „Die Krise“, schrieb der berühmte italienische Marxist Antonio Gramsci, als er im faschistischen Gefängnis saß, „besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen“.
Als ich mein Bundestagsmandat 2009 antrat, erholte sich die Welt von der globalen Finanzkrise. Darauf folgte alsbald die Eurokrise, und in deren Windschatten der Aufstieg radikal rechter Populisten. Die Verschnaufpause nach der Flüchtlingskrise endete jäh mit der Coronapandemie samt ihrer zahlreichen Folgen, Fehler, Irrtümer und Unzulänglichkeiten. Diese war noch nicht vorüber, als der Krieg Russlands gegen die Ukraine begann.
Sicherlich hätte ich mir gewünscht, unter anderen Umständen aus dem Bundestag auszuscheiden als vor der Kulisse der jüngsten Grundgesetzänderungen, die anstatt die überflüssige Schuldenbremse endlich abzuschaffen oder zumindest investitionsfreundlich zu reformieren, sie nun ausgerechnet für massive militärische Aufrüstung geöffnet haben.
Es gibt also für eine linke und sozialistische Politik viel zu tun, auch und gerade auf meinem Arbeitsgebiet der Sozial-, Renten- und Alterssicherungspolitik. Ich muss und werde jetzt aber darauf vertrauen, dass Andere diese Fackel nun weitertragen werden, denn die zeitliche Begrenzung politischer Mandate gilt richtigerweise auch für mich selbst. In diesem Zusammenhang freue ich mich, dass mit Lea Reisner eine junge und engagierte Frau meine Nachfolgerin ist, die meinen bisherigen Wahlkreis Köln II im Bundestag vertritt. Ich wünsche ihr in ihrer parlamentarischen Arbeit viel Erfolg, eine glückliche Hand und – ich weiß, wovon ich rede – ausreichend Sitzfleisch und sehr starke Nerven.
Ich verhehle nicht, dass ich dem Ende meines Mandats auch mit gewisser Erleichterung entgegensehe. Denn so sehr Politik mir nicht nur Beruf, sondern im Sinne Max Webers auch Berufung und Leidenschaft war und ist, so sehr haben andere wichtige Teile des Lebens viel zu oft dahinter zurückstehen müssen wie Partnerschaft, Freundschaften und Verwandtschaften. Norbert Blüm hat nach seiner Zeit als Minister einmal ausgerechnet, wie viel Lebensjahre er in Sitzungen verbracht hatte. Ich hoffe, seine Zeitmarke nicht zu erreichen und werde gerade das Pendeln mit der Deutschen Bahn zwischen Köln und Berlin definitiv nicht vermissen.
Wenn ich, selbstredend neben den eingangs erwähnten Anliegen in der Rentenpolitik, einen Wunsch der hauptamtlichen Politik mitgeben dürfte, wäre es dieser: Sie möge sich stärker als bisher dafür einsetzen, dass Menschen so viel von ihrer kostbaren Lebenszeit wie möglich so verbringen können, dass sie ihnen als schöne Zeit in Erinnerung bleibt. Denn der Rentenpolitiker weiß: Unsere Zeit auf Erden ist begrenzt. „Der wirkliche Reichtum“, schreibt Karl Marx in seinen ›Grundrissen zur Politischen Ökonomie‹, „ist die entwickelte Produktivkraft aller Individuen. Es ist dann keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time das Maß des Reichtums“. Das Ziel einer Gesellschaft, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, erscheint mir nach wie vor erstrebenswert, und ihm sind viele Unterstützerinnen und Unterstützer zu wünschen. Aus deren zweiter Reihe trete ich nun zurück, blicke aber auch weiterhin nach vorne.
Der von mir so sehr geschätzte Lothar Bisky sagte gegen Ende seines Lebens zu seiner politischen Arbeit einmal:
„Ich habe mir Mühe gegeben. Teilweise hat es auch viel Freude gemacht.“
In diesem Sinne bedanke ich mich herzlich bei Ihnen und Euch, die meine Arbeit als Bundestagsabgeordneter verfolgt, unterstützt und kritisiert haben, wünsche rundherum das Beste und verbleibe als bald freiwillig und selbstbestimmt Mandatsloser
mit freundlichen Grüßen,
Ihr und Euer
Dipl.-Soz.Wiss. Matthias W. Birkwald
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