Rede von Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) zur abschließenden Beratung des GE der Bundesregierung „Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung der Organisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSV-Neuordnungsgesetz – LSV-NOG)“, BT-Drs. 17/7916 v. 28.11.2011 am 09.02.2012 im Plenum des Deutschen Bundestages
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der landwirtschaftlichen Sozialversicherung gibt es Reformbedarf. Darin sind sich alle einig. Uneinig sind wir uns darüber, ob dieser Reformbedarf mit dem von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf zur Neuorganisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung auch tatsächlich befriedigt werden kann. Die Linke sagt: Nein, das ist nicht der Fall.
(Beifall bei der LINKEN)
Frau Connemann, ich will gar nicht darum herumreden: Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält einige richtige Maßnahmen, Absichten und Regelungen. Es ist gut, dass die Beitragszahlungen an die Berufsgenossenschaften vereinheitlicht werden; denn es ist nicht einzusehen, warum die Menschen Beiträge in unterschiedlicher Höhe zahlen müssen, nur weil sie in verschiedenen Regionen Deutschlands leben und arbeiten. Deshalb begrüßt die Linke, dass die Beiträge bis zum Jahr 2018 angeglichen werden.
Im vergangenen Jahr hat die landwirtschaftliche Sozialversicherung insgesamt 6,3 Milliarden Euro ausgegeben. Deutlich mehr als die Hälfte dieser Ausgaben, nämlich knapp 60 Prozent oder 3,7 Milliarden Euro, wurden vom Bund, also durch Steuergelder, finanziert. Deshalb ist es durchaus richtig, eine zweistufige Organisation mit einer Bundesebene für zentrale Aufgaben einzuführen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, Sie haben auch einige personalrechtliche Verbesserungen in diesen Gesetzentwurf eingefügt. Die sind vor allem beamtenrechtlicher Art. Dagegen ist nichts zu sagen, aber die wirklich wichtigen Kritikpunkte blenden Sie leider aus. Sie wollen weder die paritätische Vertretung der Arbeitnehmer im Gartenbau beibehalten, noch wollen Sie die Forderungen der Landfrauen nach einer Frauenquote berücksichtigen. Dazu sage ich hier: Die Linke steht fest an der Seite der Landfrauen.
(Beifall bei der LINKEN ‑ Lachen bei der CDU/CSU und der FDP - Zurufe von der SPD)
Selbstverständlich muss eine Frauenquote in den Selbstverwaltungsgremien des Bundesträgers und damit auch auf den Wahllisten eingeführt werden. In diesem Punkt stimmen wir übrigens auch ausdrücklich dem Entschließungsantrag der Grünen zu.
(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Die Abschaffung der sogenannten Halbparität, wie sie noch in der Gartenbau-Berufsgenossenschaft besteht, bedeutet nichts anderes als eine Schwächung der Position der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Halbparität bedeutet, dass hier die Unternehmerseite und die Arbeitnehmerseite bisher auf Augenhöhe miteinander verhandeln. Das hat im Gartenbau übrigens auch zu hervorragenden Ergebnissen geführt. Am betrieblichen Unfallschutz ist das deutlich zu erkennen. Die neue Drittelparität bedeutet nun nicht etwa, dass zu den Arbeitsmarktparteien ein neutraler Dritter hinzukäme. Mitnichten! Die Dritten in der Runde sollen ebenfalls Unternehmerinnen und Unternehmer sein, nur eben welche ohne Angestellte. Ich sage Ihnen: Diese Schwächung der Interessenvertretung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ist inakzeptabel.
(Beifall bei der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung will mit der vorliegenden Reform „eine dauerhafte Erhaltung des eigenständigen agrarsozialen Sicherungssystems“ hinbekommen. Diesem Ziel hat bisher niemand widersprochen. Ob dieses Ziel mit der Organisationsreform, wie sie der Gesetzentwurf der Bundesregierung vorsieht, erreicht werden kann, ist allerdings mehr als fraglich. Warum? In der landwirtschaftlichen Sozialversicherung gibt es immer mehr Leistungsempfängerinnen und ‑empfänger und immer weniger Beitragszahlerinnen und ‑zahler. Diesen unbestreitbaren Trend kann auch die heute zur Diskussion stehende Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung nicht wegzaubern.
Die Entwicklung ist in der Alterssicherung der Landwirte zum Beispiel dramatisch zu nennen. Es gibt mehr als doppelt so viele Menschen, die eine Rente aus der Alterssicherung der Landwirte beziehen, als es Bauern und Bäuerinnen gibt, die Beiträge zahlen. Das wird ohne massive Steuerzuschüsse auf die Dauer nicht zu stemmen sein. Deshalb sagen wir, Frau Connemann: Wir müssen uns mit aller Vorsicht und mit Rücksicht auf die gewachsenen Strukturen zumindest einmal fragen, ob und, wenn ja, inwiefern ein eigenständiges Alterssicherungssystem in der Landwirtschaft langfristig noch tragfähig sein wird.
(Gitta Connemann (CDU/CSU): Das klang gestern etwas anders!)
Mit den jetzt auf dem Tisch liegenden Reformvorschlägen wird das Ziel einer zukunftsfähigen und dauerhaften Alterssicherung für die Landwirte, jedenfalls aus unserer Sicht, nicht erreicht.
(Beifall bei der LINKEN)
In der aktuellen Reformdebatte über eine gute Altersvorsorge und die Vermeidung von Altersarmut fordern zum Beispiel der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Sozialverband Deutschland, die Volkssolidarität und die Linke, nach und nach alle Erwerbstätigen ‑ in welcher Art und Weise auch immer sie erwerbstätig sind ‑ in ein System der Alterssicherung einzubeziehen. Eine solche Erwerbstätigenversicherung wäre zeitgemäßer, sie wäre solidarischer, und sie wäre nachhaltiger.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich weiß ja: Diese Frage kann man nicht von heute auf morgen entscheiden; das ist völlig klar. Aber es wäre doch sinnvoll, wenn die Bundesregierung sie im „Regierungsdialog Rente“ wenigstens einmal diskutieren würde. Gründe dafür gibt es genug. Denn im Gegensatz zur gesetzlichen Rentenversicherung ist die Alterssicherung der Landwirte von vornherein nur als Zuschussrente gedacht gewesen. Die durchschnittliche Rente liegt heute bei etwa 460 Euro; bei der Ehegattin sind es gerade einmal 237 Euro. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Außerdem - das ist schon gesagt worden - lassen sich knapp 50 Prozent der Landwirte von der Versicherungspflicht befreien. Das heißt, die Hälfte der Landwirte flieht quasi bereits aus dem eigenständigen Alterssicherungssystem. Das scheint mir Grund genug zu sein, wenigstens einmal darüber nachzudenken, die Bauern und Bäuerinnen in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Bemerkung zum Schluss zur Hofabgabeklausel. Diese Klausel beruht auf der Annahme, dass der bäuerliche Hof von Generation zu Generation weitergegeben und weiterbetrieben wird. Das ist heute aber oft realitätsfremd. Die Linke fordert deshalb ‑ gemeinsam mit der SPD und den Grünen ‑, dass die Landwirtinnen und Landwirte, auch ohne ihren Hof abgeben zu müssen, eine Rente erhalten können. Die Hofabgabeklausel ist eine Regelung von gestern. Sie muss heute dringend abgeschafft werden.
(Gitta Connemann (CDU/CSU): Mit welchen Folgen?)
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
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