Bereits vor einigen Wochen haben wir auf dieser Seite mit Bezug auf den Alterssicherungsbericht der Bundesregierung (Bericht aus Irrealistan) scharfe Kritik an den Annahmen zum (Gesamt-)Versorgungsniveau geübt, die der Rentenpolitik der Bundesregierung zugrunde liegen. Nun kritisiert auch der Sozialbeirat, der in gesetzlichem Auftrag Stellung zu den Rentenversicherungs- und Altersversicherungsberichten der Bundesregierung nimmt, in seiner Anfang der Woche bekannt gewordenen Stellungnahme zum Rentenversicherungsbericht und zum Alterssicherungsbericht 2012 diese Annahmen ebenfalls - für seine Verhältnisse auch recht deutlich.
„Zu hinterfragen ist die Annahme im Gesetz, dass die durch die ansteigende Steuerfreistellung der Beiträge zur Rentenversicherung verfügbaren Einkommen überhaupt oder gar vollständig zu einem zusätzlichen Altersvorsorgesparen verwendet werden“ heißt es dort. Wir erinnern uns: Diese Annahme hatte der Sozialbeirat bereits beim Alterssicherungsbericht 2008 kritisiert. Die Bundesregierung verwendet sie aber trotzdem weiter, um das politisch gewünschte Ergebnis der Modellrechnungen zu bekommen, dass das Gesamtversorgungsniveau aus gesetzlicher Rente und zusätzlicher Vorsorge künftig gehalten werden kann, auch wenn das Sicherungsniveau der gesetzlichen Rente weiter abgesenkt wird. Bereits ohne diese Annahme wäre das Gesamtszenario, das die Bevölkerung in Sicherheit wiegen soll, hinfällig.
Insgesamt wirft der Sozialbeirat die Frage auf, „ob durch die verschiedenen Formen der staatlich geförderten zusätzlichen Altersvorsorge das Ziel erreicht werden kann, die Niveauminderung in der gesetzlichen Rente auszugleichen.“ Im Klartext bedeutet das, dass auch der Sozialbeirat, der sich bisher nicht grundsätzlich kritisch zur Drei-Säulen-Strategie der Alterssicherungspolitik positioniert hat, nicht mehr daran glaubt, dass die gesetzlich Versicherten die Lücken, die durch die politisch von Rot-Grün bis Schwarz-Gelb bislang gewollte Niveauabsenkung in der gesetzlichen Rente entstehen, durch zusätzliche private oder betriebliche Vorsorge kompensieren können.
Der Sozialbeirat verweist darauf, dass nach den Daten des neuen Alterssicherungsberichts knapp 30 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gar keine ergänzende betriebliche oder private Vorsorge haben. Bei den Geringverdienenden sind es sogar 42 Prozent. Nicht alle, die einen Riester-Vertrag haben, schöpfen außerdem die Zulagen voll aus. Auch darauf haben wir in unserem Artikel (Bericht aus Irrealistan) bereits hingewiesen. Dass ein Fünftel der Verträge ruhend gestellt ist, muss zur Vollständigkeit ebenfalls erwähnt werden.
Auch die Annahmen zur Verzinsung der Riester-Rente – jährliche nominale Verzinsung des individuellen Kapitalstocks von vier Prozent sowie Abschluss- und Verwaltungskosten von zehn Prozent – stellt der Sozialbeirat in Frage: „Dies sind [aber] Annahmen, die in einer Reihe von Fällen in der Realität nicht so verwirklicht werden können, weil entweder die Kosten höher liegen oder die Verzinsung von vier Prozent unterschritten wird.“ Recht hat der Sozialbeirat! Allerdings dürfte es nicht nur um wenige Fälle gehen, sondern um ein Massenphänomen. Gerade bei jüngeren Verträgen, die entweder über keinen oder nur den aktuellen mickrigen Garantiezins von 1,75 Prozent verfügen, dürfte eine solche Nominalverzinsung vollkommen unrealistisch sein.
Bleibt das Zinsniveau für einen längeren Zeitraum unter der im Alterssicherungsbericht verwendeten Annahme, „sind die im Alterssicherungsbericht ausgewiesenen Gesamtversorgungsniveaus in der Zukunft nicht erreichbar“, so der Sozialbeirat weiter. Bei einem nominalen Zinssatz von drei Prozent würden nach seinen Berechnungen die Beiträge aus der Riester-Rente und der aus Steuerersparnissen gespeisten privaten Rentenversicherung zum Gesamtversorgungsniveau 2030 um zwei Prozentpunkte niedriger ausfallen. Trotz insgesamt deutlich steigender Anteile dieser Sicherungsformen am Gesamtversorgungsniveau, würde dieses 2030 in den meisten Modellfällen dann niedriger liegen als heute und nicht, wie die Bundesregierung permanent suggeriert, höher.
Die Schlussfolgerungen, die der Sozialbeirat aus seiner Kritik an den Annahmen zieht, sind jedoch denkbar harmlos: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales soll im Rahmen seiner regelmäßigen Berichterstattung zur Entwicklung der Alterssicherung in Deutschland – also in den alle vier Jahre erscheinenden Alterssicherungsberichten – empirische Daten zur Verzinsung und zu den Verwaltungskosten der Riester-Rente liefern und Schlussfolgerungen für die Modellrechnungen zum Gesamtversorgungsniveau daraus ziehen. Der nächste Alterssicherungsbericht ist aber erst 2016 fällig.
Wir meinen: Das ist viel zu spät! Bereits jetzt ist offensichtlich, dass das Drei-Säulen-Prinzip der Alterssicherung gescheitert ist. Die dem damaligen Paradigmenwechsel von der Lebensstandardsicherung durch die gesetzliche Rente hin zur Lebensstandardsicherung durch gesetzliche Rente, betriebliche und private Zusatzvorsorge zugrunde liegende Meta-Annahme, dass der Kapitalmarktzins im langfristigen Durchschnitt oberhalb der Wachstumsrate einer Volkswirtschaft und ihrer Lohnsumme liegt, und die auch der Sozialbeirat in seiner Stellungnahme thematisiert hat, ist falsch (vgl. hierzu auch (Joebges, Heike/Meinhardt, Volker/Rietzler, Katja/Zwiener, Rudolf: Kapitaldeckung in der Krise. Die Risiken privater Renten- und Pflegeversicherungen, WISO-Diskurs Juli 2012). Das überschüssige Kapital aus den kapitalgedeckten Altersvorsorgesystemen wird auch weltweit auf Dauer keine hohen, sicheren Renditen erwirtschaften können. Das ist in der Krise erschreckend deutlich geworden. Es ist deshalb höchste Zeit für einen Kurswechsel: Für eine Umorientierung auf das gesetzliche Umlagesystem und eine lebensstandardsichernde gesetzliche Rente! Für die Beschäftigten ist diese Form der Altersvorsorge ohnehin günstiger. Denn an ihrer Finanzierung sind die Arbeitgeber_innen hälftig beteiligt. Die Beiträge zur Riester-Rente müssen sie dagegen alleine tragen. Die staatliche Förderung kassieren die Versicherungsunternehmen über die hohen Abschluss- und Verwaltungskosten sowie die für die Versicherten ungünstigen Sterbetafeln. Mit dieser Fehlsubventionierung muss endlich Schluss sein! Das Geld ist besser in der gesetzlichen Rentenversicherung im wirksamen Kampf gegen Altersarmut aufgehoben.
Matthias W. Birkwald, MdB, ist rentenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion DIE LINKE.
Dr. Katrin Mohr ist Referentin für soziale Sicherung und Rentenpolitik bei der Bundestagsfraktion DIE LINKE.
Erschienen bei Wirtschaft und Gesellschaft: www.wirtschaftundgesellschaft.de/
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