Rede von Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.) zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung des Erwerbsminderungsschutzes (18/9) am 16.01.2014 im Deutschen Bundestag
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit dem Jahr 2000 befinden sich die Erwerbsminderungsrenten im freien Fall. Das kann man so ähnlich heute auch in dem Referentenentwurf für das Rentenpaket der Bundesregierung nachlesen. Ich sage: Krankheit darf niemals zum sozialen Abstieg führen. Die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher, hat der Großen Koalition deshalb ins Stammbuch geschrieben ‑ ich zitiere ihre Presseerklärung ‑:
Die Erwerbsminderungsrentner dürfen von CDU/CSU und SPD nicht weiterhin mit der Beibehaltung der Abschläge bestraft werden. Sie müssen gestrichen werden!
Recht hat sie.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir sprechen hier von 1,7 Millionen kranken Menschen. Sie haben es gesundheitlich nicht geschafft, bis 65 Jahre und drei Monate zu arbeiten. Jedes Jahr kommen 180 000 neu dazu, viele von ihnen, weil sie durch katastrophale Arbeitsbedingungen immer kränker werden. Das sagt einer, der weiß, wovon er redet, nämlich Mario Becker, er ist Betriebsratsvorsitzender in einem kleinen Unternehmen südlich von Magdeburg. Er sagt:
Bei uns im Betrieb hält kein Kollege länger als bis 58 durch!
Die Kollegen produzieren Stachel- und Maschendraht. Sie arbeiten im Zweischichtsystem, und sie werden nach Leistung bezahlt. Jeder von ihnen ist für drei Maschinen zuständig. Um auf 100 Prozent Lohn zu kommen, müssen sie in jeder Achtstundenschicht 50 Rollen heben. Eine Rolle wiegt 35 Kilo. Die Mitarbeiter müssen also pro Schicht fast 2 Tonnen bewegen, um auf ihren vollen Lohn zu kommen. Stellen Sie sich das doch bitte einmal vor! Da ist es doch kein Wunder, dass sie nicht bis 65 durchhalten, geschweige denn bis 67.
Die Statistik spricht hier eine deutliche Sprache: Wer heute neu in die Erwerbsminderungsrente gehen muss, ist im Durchschnitt erst 51 Jahre alt. Das zeigt: Die heutigen Arbeitsbedingungen sind oft unmenschlich. Da müssen wir ran, und zwar dringend.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen geht es wie Hape Kerkeling: „Ich habe Rücken.“ Also im Klartext: Bandscheibe, Knie, Hüftoperation. Dachdecker, Bauschlosser oder Stahlwerker sind häufig betroffen - kein Wunder. Alles Männer. Ja, aber derzeit geht schon jede zweite neue Erwerbsminderungsrente an eine Frau, und es werden jedes Jahr mehr.
(Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Pflege!)
Ob Verkäuferin, Krankenschwester oder Altenpflegerin, die Arbeitsbelastungen nehmen eher zu als ab ‑ bei Frauen und Männern. Das gilt nicht nur für die körperlichen, sondern auch für die seelischen Belastungen. Bei den Gründen für eine Erwerbsminderungsrente liegen die psychischen Krankheiten mit 40 Prozent aktuell an erster Stelle.
Frau Ministerin Nahles ist nicht da; daher fordere ich Frau Staatssekretärin Kramme an ihrer Stelle auf: Tun Sie etwas gegen das Überstundenunwesen, sorgen Sie für besseren betrieblichen Arbeitsschutz, und bringen Sie zügig eine Antistressverordnung auf den Weg! Dazu liegen gute Vorschläge der IG Metall und von uns LINKEN auf dem Tisch.
(Beifall bei der LINKEN ‑ Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Von den Grünen auch!)
Zur nächsten Baustelle. Wir müssen beschämt feststellen: In keinem anderen Industrieland ist es so schwierig, eine EM-Rente zu bekommen wie in Deutschland. Die Hälfte aller Anträge auf Erwerbsminderungsrente wird abgelehnt. Eine Krankenschwester sagte mir: Es ist reine Glückssache, was für einen Gutachter man bekommt. Der Gutachter des Maurers Jens Eckelmann befand, er müsse sich ja nicht unbedingt bücken. Als Maurer! Das ist absolut unverschämt. Klaus Dieter Bartsch ist seit 42 Jahren Kanalbauer. Er klagte schon vor fünf Jahren - Zitat -:
So viel Bürokratie habe ich noch nie erlebt, das steht man kaum durch.
Glücklicherweise hat er seinen Kampf um die EM-Rente gewonnen ‑ mithilfe der IG BAU. Deswegen sage ich: Wie gut, dass es starke Gewerkschaften gibt.
(Beifall bei der LINKEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, den größten Schock erleben die Betroffenen am Ende der Antragstortur: Die Erwerbsminderungsrente wird dann endlich bewilligt, aber in fast allen Fällen mit horrenden Abschlägen. 96 Prozent sind von Abschlägen betroffen. Meist handelt es sich um die Höchststrafe von 10,8 Prozent. Das sind durchschnittlich mehr als 77 Euro. Bei einer vollen EM-Rente von durchschnittlich nur noch 646 Euro ist das sehr viel Geld. Die durchschnittliche EM-Rente liegt also mehr als 30 Euro unter dem Sozialhilfeniveau. Also: Erst schuften bis zum Umfallen und dann im Stich gelassen und zum Sozialamt geschickt. Ich sage: Das muss aufhören, und zwar sofort.
(Beifall bei der LINKEN)
Vor der Wahl wollten SPD, LINKE und auch Grüne diesen unhaltbaren Zustand beenden. In allen drei Wahlprogrammen war die Forderung nach Abschaffung der Abschläge enthalten. Wir LINKEN haben deshalb schon im Oktober 2013 diesen Gesetzentwurf eingebracht. Wir fordern schlicht und einfach: Die Abschläge müssen weg!
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das würden den Betroffenen monatlich bis zu 82 Euro mehr bringen. Aber die Große Koalition ist auf diesem Ohr taub. Ihr Vorschlag, die Zurechnungszeit um zwei Jahre anzuheben, wirkt so, als wenn die Betroffenen statt bis zum 60. nun bis zum 62. Geburtstag in die Rentenkasse eingezahlt hätten. Das ist ein kleiner Fortschritt. Er bringt den Betroffenen im Schnitt 35 Euro mehr Erwerbsminderungsrente. Aber das reicht vorne und hinten nicht.
Wir LINKEN fordern deshalb, die Abschläge abzuschaffen und die Zurechnungszeiten in einem Schritt um drei Jahre anzuheben. Das brächte nämlich 100 Euro mehr für kranke Menschen.
(Dr. Martin Rosemann (SPD): Das steht aber so gar nicht im Antrag!)
Diese 100 Euro würden vielen Betroffenen den Gang zum Sozialamt ersparen. Dafür kämpft die LINKE.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN)
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