So hat sich Andrea Nahles ihren Einstieg als Arbeitsministerin nicht vorgestellt. Nachdem die Koalition sich endlich zusammengerauft hatte, legte sie erstaunlich schnell ein 30-seitiges Gesetz vor. Ihr ‚Rentenpaket‘ beendet damit – vermeintlich – eine verlorene Dekade für Rentnerinnen und Rentner. Jahr für Jahr wurde ihnen gesagt: Wir müssen die private Altersvorsorge stärken, und wir müssen länger arbeiten, wir müssen die Beiträge senken. Sprich: Wir müssen kürzen, kürzen, kürzen.
Damit soll jetzt Schluss sein und die Ministerialbürokratie markierte das mit ihrem eigenen Sinn für sprachlichen Humor: „Rentenversicherungs-Leistungsverbesserungsgesetz“ betitelte sie das Reformpaket. Ein Paket, das tatsächlich auf vier Baustellen erstmals seit 1992 Verbesserungen bringen wird, die sich in Euro und Cent im Rentenbescheid niederschlagen. Mütter – und einige wenige Väter – von vor 1992 geborenen Kindern können sich über 28 Euro im Westen und 26 im Osten zusätzlich freuen.
Das ist für Kinder aus dem Osten zu wenig und keine Gleichstellung mit nach 1992 geborenen Kindern, aber immerhin. Erwerbsminderungsrenten werden im Durchschnitt um monatlich rund 40 Euro angehoben. „Besonders langjährig Versicherte“ werden nach 45 Beitragsjahren abschlagsfrei ab 63 und später ab 65 in Rente gehen können. Das Reha-Budget wird etwas großzügiger ausgestattet.
Aber jetzt hagelt es Kritik von Grünen, der Wirtschaft und der Deutschen Rentenversicherung selbst: Die Pläne seien zu teuer, sie würden nur bestimmte oder schon privilegierte Gruppen begünstigen und sie seien ungerecht gegenüber den Jüngeren. Es stimmt: Vieles ist handwerklich mangelhaft, aber vor allem wird die „Mütterrente“ ungerecht aus Beitragsmitteln finanziert.
Da bleibt kaum Geld für echte Leistungsverbesserungen übrig. Zu nennen wären die notwendige Wiederanhebung des Rentenniveaus, die Abschaffung der Rente erst ab 67 und die Abschaffung der systemwidrigen Abschläge bei den Erwerbsminderungsrenten.
Die Chance, Altersarmut zu bekämpfen, ist auf Jahre hinaus blockiert. Schlimmer noch: Die große Koalition widmet sich Kleinbaustellen, während die Gesamtarchitektur ins Wanken gerät. Hier wird es kompliziert: Höhere Renten heute dämpfen die Rentenanpassungen von morgen.
Woran liegt das? Die Höhe der Renten bestimmt sich aus zwei Größen. Den Entgeltpunkten, die man während eines Arbeitslebens ansammelt und die sich nach der individuellen Beschäftigungsdauer und der Lohnhöhe berechnen. Hier wirken sich Zeiten der Arbeitslosigkeit und niedriger Löhne negativ aus. Die Entgeltpunkte werden dann multipliziert mit dem Rentenwert, der jedes Jahr neu berechnet wird. Ergebnis ist die monatliche Bruttorente, die jeder Rentnerin und jedem Rentner zusteht.
Orientiert hat sich die jährliche Anpassung des Rentenwerts seit 1957 an der Lohnentwicklung. Eine auskömmliche Rente sollte die eigene Lebensleistung honorieren, die Rentnerinnen und Rentner sollten an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung teilhaben und gegen Preissteigerungen geschützt werden.
Aber genau dieses Ziel – den Lebensstandard im Alter zu sichern – wurde seit 2001 systematisch durch den Nachhaltigkeitsfaktor und den Riesterfaktor zerstört. Dahinter verbergen sich komplizierte Berechnungen. Sicher ist aber eines: Der Rentenwert wird zwar steigen, aber nicht mehr parallel zu den Löhnen. Preissteigerungen werden nicht mehr aufgefangen. Alle Renten verlieren dramatisch an Wert. In Zahlen ausgedrückt: Die Kürzungsfaktoren senken das Rentenniveau – also das Verhältnis der Standardrente zum Durchschnittseinkommen – von 53 (2001) auf 43 Prozent (2030). Die Renten verlieren ein Fünftel ihres Wertes. Statt 1000 nur noch 810 Euro.
Bezogen auf das Rentenpaket heißt das: Eine ostdeutsche Erwerbsminderungsrentnerin erhält heute im Durchschnitt 619 Euro Rente. Der Bruttobedarf für ältere Bezieher von Grundsicherung in Brandenburg liegt bei 689 Euro. Durch die Reform würde eine Neurentnerin einen Zuschlag von 38 Euro erhalten und damit 657 Euro bekommen. Im Jahr 2030 wären davon nur noch 599 Euro übrig.
Die Rentenerhöhung ist also für unsere unverschuldet Kranke zu gering, um sie aus der Sozialhilfe herauszuholen und die Erhöhung von heute wird ihr Jahr für Jahr wieder weggenommen.
Die Lücke sollten zertifizierte Produkte der privaten Altersvorsorge beziehungsweise die betriebliche Altersvorsorge füllen. Vor allem Erstere ist gefloppt – trotz Milliardenförderung. Meine Forderung heißt deshalb: Wer echte Teilhabe der Älteren will, muss die Kürzungsfaktoren aus der Rentenanpassungsformel streichen und wieder zu einem Rentenniveau von 53 Prozent zurückkehren. Das würde in den kommenden Jahren die Renten der älteren Generation stabilisieren und die Jüngeren überzeugen, nicht nur auf die Höhe der Beiträge zu schielen, sondern mit einem Blick auf die Renteninformation zu sehen: Die gesetzliche Rente ist sicher.
Wenn die Arbeitgeber ihren gerechten Beitrag leisteten und die Riestermilliarden aller Beteiligten in die gesetzliche Rentenkasse gezahlt würden, wäre das auch finanzierbar. Durchschnittsverdienende hätten trotz steigender Beiträge mehr Geld im Portemonnaie. Die Rentenversicherung so umzubauen, wäre die größte Baustelle. Das Renten-Niveau muss rauf, für die Alten heute und für die Jungen morgen. Das wäre generationengerecht.
Matthias W. Birkwald ist rentenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag und Obmann im Ausschuss für Arbeit und Soziales.
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