Im HANDELSBLATT vom 11. Oktober 2018 hat der Journalist Peter Thelen einen denkwürdigen Kommentar veröffentlicht, den ich hier gerne zur Lektüre empfehle!
Ein Spektakel zur besten Sendezeit könnte die Plenardebatte im Deutschen Bundestag am heutigen Donnerstag bieten. Der Tagesordnungspunkt sechs, angesetzt für 12.45 Uhr, scheint auf den ersten Blick unspektakulär: „Krankenversicherungsbeiträge für Betriebsrenten“ lautet er. Dabei bietet er den Stoff für politisches Kabarett.
Die Geschichte dieses Antrags beginnt bereits im Jahre 2003: Die Arbeitslosigkeit war auf Rekordniveau und das Defizit in der gesetzlichen Krankenversicherung näherte sich der 10-Milliarden-Euro-Grenze. Die von der SPD geführte Bundesregierung entschloss sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion den Krankenkassenbeitrag auf Betriebsrenten zu verdoppeln.
Neben dem Arbeitnehmeranteil zur Krankenversicherung müssen Betriebsrentner seither auch den Arbeitgeberanteil zahlen – selbst wenn die Versorgungsansprüche aus dem Nettoeinkommen aufgebaut worden waren. Die verschärfte Beitragspflicht galt ab 2004 auch für Versorgungs-Verträge, die vor 2004 abgeschlossen worden waren.
Besonders heftig erwischte es Arbeitnehmer, die im Vertrauen auf eine steuer- und beitragsfreie Auszahlung eine Direktversicherung über ihren Arbeitgeber abgeschlossen hatten. Ihre Kapitalausschüttung wird nun so behandelt, als wäre sie über zehn Jahre in Teilbeträgen geflossen: Auf jeden dieser Teilbeträge wird der volle Krankenkassenbeitrag erhoben. Das führt oft zu einer negativen Rendite der eingezahlten Beiträge.
Vor allem dieser als ungerecht empfundene rückwirkende Eingriff sorgt seitdem für Unbehagen bei Politikern aller Parteien. Ihr schlechtes Gewissen wird dadurch wach gehalten, dass Betroffene und der Verband der Direktversicherungsgeschädigten seit Jahren vor allem den Abgeordneten von SPD, CDU und CSU in deren Wahlkreisen die Türen einrennen.
Daran änderte sich auch nichts dadurch, dass das Bundesverfassungsgericht bereits vor Jahren das Sonderinkasso auf Betriebsrenten im Interesse der Finanzierbarkeit der sozialen Krankenversicherung für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärte und diesen Standpunkt auch in neueren Urteilen beibehielt.
Die Sozialdemokraten taktieren
Trotz des Unmuts der Betroffenen konnten sich Union und SPD bislang nicht auf ein Reformkonzept verständigen. In diese Lücke sprang die Linke. Im Dezember 2017 brachte sie einen Antrag in den Bundestag ein, mit dem sie einen Gesetzentwurf fordert, „der die doppelte Beitragszahlung auf Direktversicherungen und Betriebsrenten in der Anspar- und Auszahlungsphase beendet“. Was nun folgte, nimmt sich aus wie die Vorlage fürs die politische Kabarett.
Nachdem der Antrag der Linken im Februar dieses Jahres in erster Lesung im Bundestag beraten und an den zuständigen Gesundheitsausschuss weitergeleitet worden war, beschloss der immerhin eine öffentliche Anhörung. Sie fand im April statt. Es bestand große Einigkeit unter den Experten, dass die doppelte Beitragspflicht dem Image der freiwilligen ergänzenden Altersvorsorge schadet.
Am 27. Juni sollte der Gesundheitsausschuss den Antrag der Linken abschließend beraten. Im normalen Geschäftsbetrieb hätte dies bedeutet: Ablehnung mit den Stimmen von SPD und Union. Das Thema wäre damit fürs erste von der politischen Agenda verschwunden gewesen.
Doch das wollte die SPD um jeden Preis vermeiden. Also meldete sie weiteren Beratungsbedarf an. Mit der gleichen Begründung wurde das Thema auch am 26. September von der Tagesordnung gestrichen.
An diesem Mittwoch wiederholte sich das Spiel. Union und SPD sorgten mit ihrer Mehrheit dafür, dass der Antrag erneut von der Tagesordnung genommen wurde.
Die Verschleppungstaktik hat ihre Grenzen
Dieses Mal dürfte auch eine Rolle spielen, dass die Bayern-Wahl unmittelbar bevorsteht. Ein ablehnendes Votum des Ausschusses hätte die Linke sicherlich auf den letzten Wahlkampf-Metern genutzt, um der CSU noch ein paar Stimmen abzujagen.
Denn die CSU steht auch bei den aktuellen Bemühungen innerhalb der Union auf der Bremse, zu einer Entschärfung der doppelten Beitragspflicht zu kommen.
Doch jede Verschleppungstaktik hat Grenzen. Dafür sorgt, wenn bloße Vernunft nicht reicht, die Geschäftsordnung des Bundestags. Die sieht vor, dass ein Antragsteller die „Erstattung eines Berichtes über den Stand der Beratungen“ ihres Antrags verlangen kann, wenn dieser Antrag mehr als zehn Sitzungswochen im zuständigen Ausschuss geschmort hat. Genau das ist inzwischen der Fall. Und deshalb wird das Plenum am heutigen Donnerstag um 12.45 Uhr genau über diesen Bericht beraten.
Wie im Vorfeld zu vernehmen war, will der Redner der SPD, Rentenexperte Ralf Kapschack, die Gelegenheit nutzen, den Koalitionspartner auf seit langem vorhandene Kompromisslinien beim Thema Doppelverbeitragung bei den Koalitionsparteien hinzuweisen.
Bereits im Juni hatte nämlich die NRW-Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion ein Reformkonzept beschlossen. Danach sollen in Zukunft kleine Betriebsrenten bis 152,25 Euro im Monat vollständig vom Krankenkassenbeitrag befreit werden. Für die übrigen Betriebsrentner soll wieder der halbe Beitragssatz wie vor 2004 gelten.
Die Mittelstandsvereinigung der Union aber hat unter Federführung ihres Vorsitzenden Carsten Linnemann einen anderen Antrag für den CDU-Parteitag im Dezember formuliert. Darin heißt es: „Die zweite Säule (Betriebliche Altersversorgung) leidet aufgrund teilweiser mehrfacher Beitragsbelastungen zunehmend unter einem Akzeptanzproblem.“ Die Mittelstandvereinigung hält es daher für erforderlich neben dem Krankenkassenbeitrag auch den Pflegebeitrag auf Betriebsrenten zu halbieren.
Sternstunde für die Linkspartei
Außerdem sollen kleine Betriebsrenten komplett sozialabgabenfrei gestellt werden. So könne „Vertrauen, welches durch die sogenannte Doppelverbeitragung von 2004 verloren gegangen ist, zurückgewonnen werden“, heißt es in dem Antrag.
Eine kleine Sternstunde wird die heutige Debatte für den Rentenexperten der Linken Matthias W. Birkwald. Denn ohne das beharrliche Bohren der Linken würde es die gerade zitierten Beschlüsse in SPD und Union wahrscheinlich gar nicht geben.
Birkwald will seine sechs Minuten Redezeit nutzen, um die CSU aufzufordern, sich von ihrer bisherigen Blockadehaltung bei dem Thema zu verabschieden. Die Koalition, so Birkwald, solle das Thema nicht immer weiter auf die lange Bank schieben indem sie etwa wartet, ob Linnemanns Antrag beim CDU-Parteitag im Dezember eine Mehrheit findet.
„Es wäre gar kein Problem, die Rückkehr zum halben Beitragssatz im laufenden Gesetzgebungsverfahrens entweder in die Rentenreform von Sozialminister Hubertus Heil oder das Versicherungsentlastungsgesetz (VEG) von Jens Spahn aufzunehmen“, so Birkwald gegenüber dem Handelsblatt.
Selbst der Verwaltungsrat des Spitzenverbands der Krankenkassen habe bereits Ende August den Gesetzgeber aufgefordert, eine Halbierung des Beitragssatzes auf Versorgungsbezüge noch in das VEG aufzunehmen, damit es zusammen mit der Halbierung der Zusatzbeiträge am 1. Januar 2019 in Kraft treten kann.
Es versteht sich von selbst: Eine Abstimmung über den Antrag der Linken ist für den heutigen Donnerstag auch im Bundestag ausdrücklich nicht vorgesehen.
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