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Matthias W. Birkwald

Wir müssen künftige Altersarmut bekämpfen und heutige verhindern!

Rede von Matthias W. Birkwald im Plenum des Deutschen Bundestages zur Forderung der LINKEN nach Einführung einer Solidarischen Mindestrente.

29.05.2020
Redebeitrag von Matthias W. Birkwald (Die Linke) am 28.05.2020 um 12:46 Uhr (163. Sitzung, TOP 13, ZP 4)

Die gesamte Debatte finden Sie hier zum Ansehen und Anhören.

Die Rede von Matthias W. Birkwald zum Nachlesen: 

Vizepräsident Thomas Oppermann:

Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion DIE LINKE der Kollege Matthias W. Birkwald.

(Beifall bei der LINKEN)

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Riester-Rente, Rürup-Rente, Sockelrente, Zuschussrente, solidarische Lebensleistungsrente, Solidarrente, Nahles-Rente, Flexirente, Plus-Rente, Respektrente, Basisrente, Garantierente und aktuell die "sogenannte Grundrente" – Chaos pur.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Und die Protokollanten fallen in Ohnmacht!)

Und nun will Die Linke eine Solidarische Mindestrente einführen, und die ist dringend nötig.

(Beifall bei der LINKEN)

Denn nach den Kriterien der Europäischen Union liegt die offizielle Armutsschwelle in Deutschland für Alleinlebende bei 1 136 Euro.

Demnach sind 18,2 Prozent aller Menschen ab 65 Jahren arm. Fast jeder Fünfte!

Das sind 1,3 Millionen Männer und 1,7 Millionen Frauen, also 3 Millionen Menschen.

Altersarmut gibt es schon heute, und darum brauchen wir eine echte Mindestrente, die ihren Namen verdient.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wir LINKEN wollen keine "sogenannte Grundrente", sondern eine einkommens- und vermögensgeprüfte Solidarische Mindestrente, die mit vielen Bausteinen sicherstellt, dass niemand im Alter von weniger als aktuell 1 050 Euro netto leben muss, im Einzelfall in teuren Städten ergänzt um ein reformiertes Wohngeld.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir wollen kein bedingungsloses Grundeinkommen für Ältere. Wir fordern für Menschen ab 65 Jahren, deren Alterseinkommen aus gesetzlicher Rente, Betriebsrente und privater Vorsorge unter 1 050 Euro liegt, einen Zuschlag, der die Einkommenslücke bis dahin füllt. Und warum?

Ganz einfach: Artikel 1 unseres Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“,

(Beifall bei der LINKEN)

und das muss auch für alle Menschen nach ihrem 65. Geburtstag und für Menschen mit Erwerbsminderungen gelten.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine Damen und Herren, wir müssen künftige Altersarmut verhindern, und heutige Altersarmut bekämpfen. Die meisten der 38 OECD-Staaten haben das verstanden. Nur in Australien, Finnland, den USA und Deutschland gibt es keine Mindestrente für ältere Menschen, und das darf nicht so bleiben.

(Beifall bei der LINKEN)

Am vergangenen Montag gab es eine Sachverständigenanhörung zur sogenannten Grundrente der Bundesregierung. Ergebnis: Mehr als die Hälfte der drei Millionen Armen jenseits der 65 Jahre werden von der sogenannten Grundrente der Bundesregierung keinen Cent sehen. Und dafür sind Sie verantwortlich, werte Kollegen Linnemann, von Stetten und andere vom Wirtschaftsflügel der CDU/CSU.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Gegen Altersarmut wird die sogenannte Grundrente wegen Ihrer Verschlechterung des Gesetzentwurfs nicht wirklich helfen, und das ist schlecht.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir brauchen aber gute Ideen. Und da lohnt ein Blick nach Österreich.

Dort heißt die Mindestrente Ausgleichszulage.

Alleinstehende Rentnerinnen und Rentner ab 15 Beitragsjahren erhalten dort die Ausgleichszulage, bis sie monatlich auf eine Rente von 917,35 Euro kommen. Und diese Ausgleichszulage wird 14-mal im Jahr gezahlt.

Das heißt, in Österreich hat man also monatlich mindestens eine Rente von 1 070,24 Euro, und das ist gut so.

(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der SPD: Geh doch rüber!)

Übrigens: Wer keine 15 Versicherungsjahre schafft, erhält die 917,35 Euro 12-mal im Jahr als bedarfsorientierte Mindestsicherung. Und das sind immer noch gut 100 Euro mehr als die durchschnittliche Grundsicherung im Alter in Deutschland. – Ja, es ist nicht alles gut, was aus Österreich zu uns kommt;

(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE] – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Oh, danke!)

aber in der Rentenpolitik können wir viel von den Österreichern lernen.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, zunächst müssen wir Altersarmut verhindern. Dazu braucht es gute Löhne.

Deshalb fordert Die Linke – erstens –, die Tarifbindung und die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht zu stärken.

(Beifall bei der LINKEN)

Tarifverträge müssen deutlich leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Ralf Kapschack [SPD])

Das Ziel ist klar: Schluss mit der Tarifflucht, Schluss mit dem Lohndumping, und Schluss mit dem Missbrauch von Werkverträgen, und das nicht nur in den Schlachtbetrieben.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens müssen die Renten innerhalb von vier Jahren um zusätzliche 10 Prozent steigen. Dann wären wir wieder bei einem lebensstandardsichernden Rentenniveau von 53 Prozent, und das ist finanzierbar. Die Chef*inenn und ihren durchschnittlich verdienenden Angestellt*innen würde das monatlich jeweils nur gut 33 Euro mehr an Rentenbeitrag kosten, bei 3379 Euro Bruttogehalt im Monat. Es geht!

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine Damen und Herren, wir brauchen aber auch wirksame Maßnahmen gegen die Altersarmut für Menschen ab 55 Jahren und für die heutigen Rentnerinnen und Rentner. Viele von ihnen haben Jahrzehnte ohne gesetzlichen Mindestlohn arbeiten müssen. Ich denke da beispielsweise an Friseure, Kassiererinnen, Paketzusteller, Pflegerinnen, Reinigungskräfte, Bäckereifachverkäuferinnen oder Kellner. Sie haben jetzt im Alter fast keine Chance mehr, noch aus der Sozialhilfe je herauszukommen.

Darum sollte – drittens – die Rente nach Mindestentgeltpunkten, Herr Weiß, für Beschäftigte mit niedrigem Einkommen reformiert fortgeführt werden. Noch heute erhalten 3,6 Millionen Menschen, überwiegend Frauen, diesen guten Rentenzuschlag für ihre Arbeit zu niedrigen Löhnen vor dem Jahr 1992.

Allerdings: Statt 35 Beitragsjahren sollten 25 Jahre als Voraussetzung genügen; denn dann hätten mehr Frauen im Westen bessere Chancen auf einen Rentenzuschlag.

(Beifall bei der LINKEN)

Und der Zuschlag sollte für Verdienste bis zu 80 Prozent des Durchschnittslohns gelten. Das ist wichtig. –

Insgesamt wäre das besser als die "sogenannte Grundrente".

Viertens. Damit wir unverschuldete Lücken im Lebenslauf wenigstens bei der Rente schließen, müssen endlich wieder Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslose und Erwerbslose in Hartz IV gezahlt werden, und zwar auf Basis des halben Durchschnittsverdienstes.

(Beifall bei der LINKEN)

Fünftens wollen wir alle Menschen mit Erwerbseinkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen, auch Selbstständige und Beamtinnen und Beamte. Und wir Bundestagsabgeordneten sollten als Erste vorangehen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Leni Breymaier [SPD])

Und wenn all diese und viele andere Maßnahmen nicht für eine Rente oberhalb der Armutsgrenze genügen sollten, dann wollen wir – sechstens – mit der einkommens und vermögensgeprüften Solidarischen Mindestrente armen Seniorinnen und Senioren einen Zuschlag aus Steuermitteln zahlen, damit niemand im Alter von weniger als 1 050 Euro und gegebenenfalls Wohngeld leben muss. Zum Schluss.

Unser Ziel ist, dass so wenige Menschen wie möglich die solidarische Mindestrente benötigen werden. Und unser Ziel ist, dass der Zuschlag so gering wie möglich ausfallen möge, weil die gesetzliche Rente deutlich über 1050 Euro liegt.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir rechnen mit Kosten in Höhe von maximal 11 Milliarden Euro.

(Norbert Kleinwächter [AfD]: Da haben Sie sich aber verrechnet!)

Ein Leben in Würde im Alter muss uns das wert sein. Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)