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Matthias W. Birkwald

Zwangsverrentung unbedingt abschaffen!

09.05.2014

Erste Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Abschaffung der Zwangsverrentung von SGB-II-Leistungsberechtigten

(BT-Drucksache 18/589)

am Donnerstag, 08. Mai 2014 im Deutschen Bundestag

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Hartz IV ist und bleibt Armut per Gesetz. Das gilt für alle Langzeitarbeitslosen, aber ganz besonders für die älteren Arbeitslosen, die unbedingt arbeiten wollen, denen aber niemand mehr einen Job gibt. Warum? § 12 a im Sozialgesetzbuch II verpflichtet die Jobcenter, Hartz-IV-Beziehende ab ihrem 63. Geburtstag in eine vorgezogene Altersrente zu schicken, auch wenn diese mit horrenden Abschlägen verbunden ist, und zwar gegen den Willen der Betroffenen. Das darf nicht sein. Darum sagt die Linke: Die Zwangsverrentungen müssen abgeschafft werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten

des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Viele Menschen rufen wegen der Zwangsverrentung in meinem Büro an. Sie sind wütend, komplett verunsichert oder einfach nur enttäuscht. Ich schildere Ihnen das Beispiel einer Betroffenen, einer Verkäuferin aus Frankfurt. Sie wurde vor drei Jahren entlassen und ist am Ende ihres Erwerbslebens in Hartz IV gerutscht. Im August wird sie 63 Jahre alt, und sie hat stolze 44 Beitragsjahre vorzuweisen.

Sie sieht im Fernsehen die Berichte über die abschlagsfreie Rente ab 63, und sie hört, wie die CDU/CSU und die Arbeitgeber vor Frühverrentungen warnen. Sie will aber arbeiten. Nun hat sie vom Jobcenter einen Brief bekommen. Kein Arbeitsangebot, nein: Sie soll im August die vorgezogene Altersrente mit Abschlägen beantragen. Wenn sie das nicht tut, dann stellt das Jobcenter den Rentenantrag für sie, auch gegen ihren Willen. Dem Jobcenter ist es dabei völlig egal, wie hoch oder wie niedrig ihre Rente sein wird.

Meine Damen und Herren, versetzen Sie sich bitte einmal in die Lage der erwerbslosen Verkäuferin aus Frankfurt. Sie versteht die Welt nicht mehr. Sie dachte zu Recht: Ob und wann ich einen Rentenantrag stelle, kann ich doch wohl selbst entscheiden. – Von wegen: Das darf sie seit 2008 nach dem Willen von CDU/CSU und SPD nicht. Das ist ein massiver und unverschämter Eingriff in die Freiheitsrechte. Damit muss endlich Schluss sein. Die Zwangsverrentung muss unbedingt abgeschafft werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten

des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Was heißt die Zwangsrente für die arbeitslose Frankfurterin? Das heißt, dass ihre Rente bis zu ihrem Lebensende um 8,7 Prozent Abschläge gekürzt werden wird. Bei ihrer Rente von 900 Euro im Monat sind das fast 80 Euro jeden Monat. Sie hofft jetzt darauf, wieder einen Job zu finden. Doch das Jobcenter unterstützt sie dabei schon lange nicht mehr und hat sie aus der Arbeitslosenstatistik gestrichen. Das übrigens zum Thema geschönte Statistik.

Das alles ist unerträglich. Es hat nichts, aber auch rein gar nichts mit der Lebensleistung dieser Frau zu tun. Deshalb sage ich: Die Zwangsverrentung muss beendet werden.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten

des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber es kommt noch schlimmer. Schwarz-Rot sind nämlich 8,7 Prozent Abschläge noch nicht genug. Im Gesetz ist nämlich eingebaut, dass die Kürzungen von Jahrgang zu Jahrgang drastischer werden. Wer das Pech hat, 1964 oder später geboren worden zu sein, bekommt dann ab 2027 die Rente um sage und schreibe 14,4 Prozent gekürzt. Das wären bei 900 Euro Rentenanspruch 130 Euro.

Am allerschlimmsten trifft es jene Hartz-IV-Betroffenen, die durch die Abschläge nur auf eine Minirente kommen. Sie werden nämlich bis zu ihrem offiziellen Renteneintrittsalter auf Sozialhilfe angewiesen sein. Erst danach können sie die Grundsicherung im Alter beantragen. Sozialhilfe bedeutet im Unterschied zur Grundsicherung: Es gibt keinen Cent, bis der Spargroschen bis auf 2 600 Euro aufgebraucht ist. Dann gibt es ein bisschen Geld, und dieses bisschen Geld holt sich der Staat bei den Kindern wieder.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, ich bin sehr gespannt, wie Sie das alles gleich in Ihren Reden rechtfertigen werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben die entwürdigende Zwangsverrentung im Jahr 2008 eingeführt. Wir Linken haben Sie gefragt, wie viele Menschen davon aktuell betroffen sind. Die Bundesregierung hat uns geantwortet. Was hat sie gesagt? Sie hat geantwortet: Wir wissen es nicht.

Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Sie schicken die Menschen in die Zwangsrente und wissen nicht einmal, wie viele Horrorbriefe die Jobcenter jeden Tag verschicken. Das darf doch alles nicht wahr sein!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten

des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Nach unseren Schätzungen sind in diesem Jahr circa 65 000 ältere Hartz-IV-Betroffene von der Zwangsverrentung bedroht. Wir empfehlen allen Betroffenen: Legen Sie Widerspruch ein, und beantragen Sie gleichzeitig beim Sozialgericht die aufschiebende Wirkung für Ihren Widerspruch; denn je länger Sie das Verfahren verzögern, desto geringer sind später Ihre Abschläge. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, einerseits schicken Sie Erwerbslose in die Zwangsrente, und andererseits verwehren Sie diesen Menschen den Zugang zu Ihrer neuen abschlagsfreien Rente ab 63 bzw. 65; denn für diese soll ja nur der Bezug von Arbeitslosengeld I bei der Berechnung der 45 Jahre zählen, Hartz-IV-Zeiten aber nicht. Das ist ungerecht. Wenn Hartz-IV-Zeiten mitzählten, dann könnte unsere Frankfurterin im August abschlagsfrei in Rente gehen. Ich frage noch einmal hier im Plenum: Was unterscheidet eine Verkäuferin, die einmal vier Jahre am Stück arbeitslos war, von einem Gerüstbauer, der viermal ein Jahr arbeitslos war? Ich sage: Die haben doch dieselbe Lebensleistung, oder etwa nicht?

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Claudia Roth: Denken Sie an Ihre Redezeit.

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Also, liebe Bundesregierung, schaffen Sie die Zwangsverrentung sofort ab, und zwar ein für alle Mal! Das fordern alle Erwerbsloseninitiativen. Das fordert die Linke. Das fordern auch der DGB, die Sozialverbände, der Deutsche Städte- und Gemeindetag sowie der Deutsche Landkreistag.

Vizepräsidentin Claudia Roth: Und ich fordere Sie auf, zum Ende Ihrer Rede zu kommen.

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Ja, Frau Präsidentin, ich komme sofort zum letzten Satz. – Hören Sie im Interesse der Betroffenen auf diesen guten Ratschlag! Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten

des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zwischenfrage von Matthias W. Birkwald während der Rede des Abgeordneten Paschke im Laufe der weiteren Debatte

Vizepräsidentin Claudia Roth: Herr Kollege Paschke, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bemerkung von Herrn Birkwald?

Markus Paschke (SPD): Aber gerne.

Vizepräsidentin Claudia Roth: Gut.

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Sie haben eben die Rente ab 63 und das Rentenpaket angesprochen. Ich gehe davon aus, dass Sie die Unbilligkeitsverordnung kennen, in der Situationen benannt werden, wann der betreffende Paragraf nicht angewandt werden darf. Inhaltlich haben Sie schon ein paar genannt.

Sie haben eben auch schon erwähnt, dass, wenn jemand eine abschlagsfreie Rente in Aussicht hat, die Zwangsverrentungsregelung nicht gilt. So weit, so gut. Wenn die Rente ab 63, wie sie im Entwurf des Rentenpakets bisher vorgesehen ist, kommt, wird in Zukunft jemand, der 1954 geboren ist – er kann dann nämlich im Alter von 63 Jahren und vier Monaten abschlagsfrei in Rente gehen –, wegen eines Monats, den sie oder er nicht schafft, in die Zwangsverrentung geschickt werden.

Ich weiß nicht, ob Ihnen das bewusst ist. Die Abschläge betragen dann übrigens schon 9,6 Prozent – und das auch ein ganzes Leben lang. Dieses Beispiel, das ich jetzt angeführt habe, gilt für den Jahrgang ’54, gleichermaßen aber auch für andere Jahrgänge. Deswegen sage ich: Nehmen Sie den Namen der Unbilligkeitsverordnung ernst. Diese Zwangsverrentung ist unbillig.

Schaffen Sie sie einfach ab! Ich kann nicht erkennen, wo Sie neue Ungerechtigkeiten schaffen, wenn die Erwerbslosen, die arbeiten wollen, so lange Arbeitslosengeld – in dem Fall dann Arbeitslosengeld II – bekommen statt der Rente, wie sie es für sich entscheiden. Lassen Sie den Menschen ihr Selbstbestimmungsrecht, damit sie selber entscheiden können, wann sie in die Rente gehen

wollen und wann nicht! Sagen Sie mir einen Grund, der dagegen spräche! Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Markus Paschke (SPD):

Herr Birkwald, ich habe schon in meinem Beitrag deutlich gemacht, dass wir das Problem durchaus sehen. Ich hatte gerade angefangen, einige Punkte aufzuzählen – der erste war die Rente mit 63; ich werde gleich noch einige mehr erwähnen –, die zeigen sollen, wo wir das Thema anpacken. Die Rente mit 63 wird für viele der Betroffenen dazu führen, dass sie keine abschlagsfreie Rente bekommen. Ich habe in meinem Beitrag gesagt, dass ich ganz optimistisch bin – das hat Frau Voßbeck-Kayser ja auch schon gesagt –, dass wir eine gute Regelung finden werden, die alle diese Dinge berücksichtigt. Ich bin aber nicht dafür, dass wir das so, wie in Ihrem Antrag, hopplahopp machen, sondern ich glaube, wir sollten schon präzise und gut arbeiten. Sie können uns vertrauen. Wir kriegen da schon etwas hin.

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Gastkommentar in der JungenWelt dazu vom 14.5.2014:

www.jungewelt.de/2014/05-14/012.php