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Matthias W. Birkwald

Soziale Ungleichheit und Armut beenden

Armuts- und Reichtumsbericht qualifizieren

01.10.2015

Rede von Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.)

Donnerstag, 1.10.2015, Tagesordnungspunkt 11

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE. Armuts- und Reichtumsbericht qualifizieren und Armut bekämpfen - Drucksachen 18/5109, 18/6218

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Reicher Mann und armer Mann
standen da und sah’n sich an.
Und der Arme sagte bleich:
„Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“

Ich sage, Frau Schmidt: Recht hat er, der Bertolt Brecht.

(Beifall bei der LINKEN)

Skandalös ist: In unserer Gesellschaft wird Armut immer noch vererbt. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle hat vorgestern festgestellt ‑ ich zitiere ‑:

Für jedes Jahr Arbeitslosigkeit des Vaters erhöht sich die Dauer der Arbeitslosigkeit des Sohnes im Schnitt um zwei Wochen.

Fakt ist: Unser Sozialstaat schützt heute nicht mehr vor Armut. Er schützt insbesondere Kinder nicht vor Armut, er schützt Erwerbslose nicht vor Armut, er schützt Alleinerziehende nicht vor Armut, und er schützt Ältere nicht vor Armut. Genau deshalb brauchen wir einen schonungslosen, einen ehrlichen und einen unabhängigen Armuts‑ und Reichtumsbericht.

(Beifall bei der LINKEN)

Denn, Frau Schmidt, die Bundesregierung ist verantwortlich für die soziale Ungleichheit im Lande. Es heißt, den Bock zum Gärtner zu machen, wenn die Bundesregierung weiterhin den Armuts‑ und Reichtumsbericht schreibt. Schönfärberei ist da vorprogrammiert. Sie haben es ja vorgetragen. Ich erinnere nur an die Schönfärberei des damaligen FDP‑Chefs Philipp Rösler beim Vierten Armuts‑ und Reichtumsbericht.

(Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Das ist aber nicht üblich! Das war einmalig!)

Das wollen wir nicht mehr, und darum fordert die Linke eine unabhängige Kommission.

(Beifall bei der LINKEN)

Regierungsunabhängige Kommissionen sind eine gängige und bewährte Praxis. Der Gleichstellungsbericht beispielsweise wird ebenfalls von einer unabhängigen Kommission erarbeitet.

Meine Damen und Herren, Ministerin Andrea Nahles und die Union versuchen immer wieder, den in ganz Europa gültigen Maßstab für Armut anzuzweifeln. Trotz alledem: Es hat sich durchgesetzt, dass ein Mensch dann als armutsgefährdet gilt, wenn sein laufendes monatliches Nettoeinkommen unterhalb von 60 Prozent des durchschnittlichen Äquivalenzeinkommens liegt. Nach dieser EU‑weit etablierten Armutsdefinition ist man als Alleinlebender in Deutschland aktuell bei einem monatlichen Nettoeinkommen von weniger als 979 Euro von Armut bedroht.

Das Ergebnis: 16 Prozent der Bevölkerung müssen von weniger als 979 Euro im Monat leben. 16,6 Prozent der älteren Frauen, 38,8 Prozent der Alleinerziehenden und sage und schreibe 69,3 Prozent der Erwerbslosen müssen von weniger als 979 Euro im Monat leben. Das ist die traurige Realität in unserem Land. Wenn wir das ändern wollen und eine Kellnerin oder ein Postbote durch Arbeit aus der Armutsfalle rauskommen soll, dann müsste sie oder er einen Bruttostundenlohn von 11,39 Euro erhalten.

Auf Seite 1 des Armuts‑ und Reichtumsberichts müsste dann stehen: 8,50 Euro Mindestlohn sind zu niedrig, um vor Armut zu schützen.

(Beifall bei der LINKEN)

Und auf Seite 2 des Armuts‑ und Reichtumsbericht würde dann stehen, dass Beschäftigte 45 Jahre lang einen Stundenlohn von 14,57 Euro erhalten müssten, wenn sie im Alter eine Rente in Höhe von 979 Euro netto erhalten wollten. 14,57 Euro und nicht 8,50 Euro, Frau Schmidt! Diese bitteren Wahrheiten sollen im nächsten Armuts‑ und Reichtumsbericht stehen.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Und wie soll der dann noch von einer unabhängigen Kommission erstellt werden?)

Es sollten auch die zwingenden Schlussfolgerungen daraus gezogen werden. Darum fordern wir Linken in unserem Antrag eine regierungsunabhängige Kommission und als Konsequenz aus dem Bericht ein Programm gegen Armut und soziale Ausgrenzung.

(Beifall bei der LINKEN ‑ Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wollen Sie den Armuts‑ und Reichtumsbericht selber schreiben?)

Und wir wollen, dass auch qualitative Aspekte, die die soziale Ausgrenzung jenseits des Geldes deutlich machen, eingezogen werden.

Wir wissen nämlich, dass sich jeder fünfte Haushalt in Deutschland keine Woche Urlaub im Jahr leisten kann. Wir wissen, dass jeder dritte Haushalt bei unerwarteten einmaligen Ausgaben in Höhe von 952 Euro überfordert ist. Wir wissen, dass 8,4 Prozent der Haushalte es nicht schaffen, jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit auf den Tisch zu bringen. Und wir wissen auch, dass in Deutschland 20 Prozent der Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen ist - mehr als 16 Millionen Menschen! Armut in einem reichen Land gehört abgeschafft.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN)